schwarze taz: Verschwörungen à la carte: Frank Witzel beschreibt, wie alles mit allem zusammenhängt – „Bluemoon Baby“
Wahn und Sinn
Im Zeitalter der totalen Paranoia erfreuen sich Verschwörungstheorien großer Beliebtheit. Fachidiotische Kommentatoren, die gern der Vernunft frönen, halten grundsätzlich alle Verschwörungstheorien für abwegig. Leser von Thrillern oder Spionageromanen hingegen wissen es besser: Je genauer und umfassender man das soziale und politische Geschehen betrachtet, umso deutlicher zeichnet sich ein Muster ab. Aber wie sieht dieses Muster aus, und was hat es zu bedeuten?
Die Antwort gibt Frank Witzel in seinem so lapidar wie brillant erzählten satirischen Roman „Bluemoon Baby“: Verschwörungen konstituieren sich selbst. Geheimdienste helfen zwar mit, können aber bestenfalls Geburtshilfe leisten und scheinbar unsinnigen Einzelereignissen eine Legende andichten und sie miteinander verbinden. Edgar Jay, einer der zahlreichen Protagonisten in „Bluemoon Baby“ und Geheimdienstchef, erklärt das so: „Man muss Gründe schaffen“, warum etwas passiert und eine Bedeutung hat. „Sinn stiften“ würden andere dazu sagen.
Gründe, warum alles mit allem zusammenhängt, ja zusammenhängen muss, schafft natürlich auch der Autor in seinem Roman, denn das ist seine Aufgabe als Schöpfer: Zunächst lernen wir einen abgehalfterten mittelhessischen Lehrer namens Hugo Rhäs kennen, der eine unklare Radixtheorie entwickelt hat und sich danach sehnt, ein Literat im Stil eines William S. Burroughs zu werden. Rhäs gerät – vor allem, weil er das Dekolletee einer Kollegin bewundert – in eine auch für ihn folgenschwere Abfolge von Ereignissen mit globalen Auswirkungen.
Zum einen hat alles irgendwie mit der Belagerung einer Farm in Wisconsin zu tun, in der sich die Mitglieder einer Sekte mit dem Namen „The Bare Witnesses of Armageddon“ verschanzt haben. Diese Sekte besteht eigentlich nur aus zwei Mitgliedern, wird aber von Edgar Jays Geheimdienst zur „Sinnstiftung“ benutzt, getreu dem Motto: Es ist immer gut, wenn jede Menge Verrückte dort draußen herumlaufen, denen wir was anhängen können. Zum anderen geht es um einen kenianischen Mythos, bei dem ein knochenloser Heiliger namens Budu Sulber eine zentrale Rolle spielt. Ausgerechnet ein ebenfalls knochenloser Mensch namens Douglas Douglas jr. soll der Polizei beim Ausheben der Sekte helfen. Und ausgerechnet ein Schlagersänger namens Bodo Silber taucht auf einer Benefizveranstaltung für knochenlose Patienten in Mittelhessen auf, zu der sich Hugo Rhäs begeben hat, um seine Kollegin anzubaggern, die aber plötzlich eine Doppelgängerin besitzt, die ebenfalls dort auftreten soll. Die Ereignisse verwickeln sich . . . Wahn und Sinn sind nur zwei Seiten der gleichen Medaille.
Das alles ist ungeheuer witzig geschrieben, mit zahlreichen, oftmals kryptischen Remineszenzen an die westdeutsche und amerikanische Popkultur des 20. Jahrhunderts. Kleine Anspielungen auf die poetischen Rebellen der Beat-Bewegung deuten auf Witzels literarische Wurzeln hin, und selbstverständlich hat Thomas Pynchons ausschweifender Erzählstil bei „Bluemoon Baby“ Pate gestanden. Genauso viel verdankt das Buch der hellsichtigen Geheimdiensttheorie von Jacques Derrida.
Es ist unglaublich, wie viele real existierende und fiktive Theorien Witzel in seinen Roman eingebaut hat, ohne ihn im Geringsten damit zu beschweren. Genauso unglaublich ist es, dass es dem Autor gelingt, eine hanebüchene Verschwörungstheorie mit Fakten zu untermauern und ein wirres Netz von bizarren Intrigen und erzwungenen Zufällen zu einem spannenden und in letzter Konsequenz verblüffend geradlinigen und gleichzeitig dekonstruktivistischen Thriller zu verweben. ROBERT BRACK
Frank Witzel: „Bluemoon Baby“. Edition Nautilus, Hamburg 2001, 320 Seiten, 20,80 €
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen