schüler-amokläufe: Nachahmer sind nicht zu verhindern
Trends sind keine Erscheinung der Postmoderne, und Selbstmorde auch nicht. Goethes „Werther“ löste nach der Veröffentlichung eine Welle romantisch verklärter Selbstmorde unter jungen Erwachsenen aus. Solche Nachahmungseffekte bei spektakulären Selbstmorden sind seit langem bekannt und gefürchtet. Einiges spricht dafür, dass auch Aufsehen erregende Attentate Nachahmungen auslösen: Kurz nach den Anschlägen vom 11. September raste in Florida ein junger Mann mit seiner Maschine in ein Bürogebäude. Auch der Cessna-Pilot, der sich in das Mailänder Pirelli-Hochhaus stürzte, könnte sich an den Twin Towers orientiert haben.
Kommentarvon MICHA HILGERS
Die Moden der Romantik passen nicht in das Zeitalter von Narzissmus und Massenmedien. Die entscheidende Frage ist daher, ob die Schüleramokläufe in den USA und in Erfurt zu Vorlagen für Nachahmungstäter werden. Die Psyche potenzieller Täter und die reißerische mediale Vermittlung des finalen Show-downs könnten dabei eine unheilvolle Allianz eingehen.
Denn der typische Amokläufer ist unauffällig und fühlt sich zu Unrecht missachtet. Er hat das Gefühl, nur real zu sein, wenn er die verdiente Beachtung erlangt. Im medialen Zeitalter gilt als real, was medial ist. Und damit könnte sich ihm ein großartiger Abgang anbieten, der in einem letzten tödlichen Blitzlichtgewitter die lang ersehnte Beachtung, den Furcht erregenden Respekt liefert, den der Täter in seiner Fantasie zu Lebzeiten vorwegnimmt. Dieser Dynamik kommt man nicht durch schärfere Waffengesetze oder durch das Verbot von Gewaltvideos oder -computerspielen bei. Vollends absurd wäre die Forderung nach Zensur oder Selbstbeschränkung der Berichterstattungen.
Bleiben die Täter. Doch die sind unauffällig. Wer zu Hause Videos guckt und nicht lärmend stört, fällt bisher durch die weitmaschigen Raster der Früherkennung. Denn die psychosozialen Netze für Kinder und Jugendliche können sich kaum mal um die lauten Störenfriede der flexibilisierten Patchwork-Familien-Gesellschaft kümmern. Deshalb sind die Rufe nach schärferen Gesetzen oder bewachten Schulen im mehrfachen Sinne billig. Umfassende psychosoziale Dienste für Kinder und Jugendliche, gut ausgebildete ErzieherInnen und weitergebildete Lehrer kosten viel Geld; ihre Erfolge werden erst auf lange Sicht erkennbar. So wird es bei den üblichen Appellen bleiben. Und dem Leiden am jungen Werther.
Der Autor ist Psychoanalytiker in Aachen
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