schlagloch: Sterben in Bürokratistan
Auch nach dem Tod lauert die deutsche Bürokratiehölle. Warum das Thema Entbürokratisierung endlich auch von links besetzt werden sollte
Stellen Sie sich vor, Ihr Vater ist gerade gestorben. In der Trauerphase, während Sie sich schmerzhaften Aufgaben widmen – Verwandte und Freunde anrufen, den Nachruf verfassen und verschicken und sein Hab und Gut sortieren –, erhalten Sie eine Benachrichtigung vom Standesamt, es seien einige fehlende Unterlagen nachzureichen, bevor die Sterbeurkunde ausgestellt werden könne (ohne Sterbeurkunde kann der Mensch als Rechtswesen nicht zu Grabe getragen werden): aktuelle internationale Geburtsurkunde des Verstorbenen, aktuelle internationale Geburtsurkunde des Ehegatten, aktuelle internationale Heiratsurkunde mit deutscher Übersetzung, Erklärung über die Namensänderung bezüglich des Vatersnamens sowie die Frage, wie er die deutsche Staatsangehörigkeit erhalten habe samt vorzulegendem Nachweis.
Stellen Sie sich vor, Ihr Vater wurde nicht in Berchtesgaden, sondern in Bulgarien geboren, nicht in den Alpen, sondern auf dem Balkan. Sie müssten bei der dortigen Behörde anrufen, um zu erfahren, die aktuelle (weniger als sechs Monate alte) Geburtsurkunde könne nur vom zuständigen Amt in der Geburtsstadt ausgestellt werden, ausgehändigt entweder der Person selbst oder einer von ihr bevollmächtigten Person. Mein Vater hätte mir, kurz vor seinem Ableben, in weiser Voraussicht, dass er seinen Tod mit einem Nachweis seiner Geburt zu bestätigen haben werde, eine Vollmacht erteilen müssen. Doch selbst für die Lebenden ist der Aufwand nicht unerheblich. Meine Mutter musste nach Sofia fliegen, um sich besagte aktuelle internationale Heiratsurkunde ausstellen zu lassen.
Die Vorlage der Einbürgerungsurkunde ist ein weiteres bürokratisches Rätsel, denn der Behörde liegt der Reisepass meines Vaters vor – ein nahezu fälschungssicheres Dokument. Da der Einbürgerung ein bürokratischer Hindernislauf sondergleichen voranging, bedeutet diese Aufforderung nichts anderes als zwischenamtliche Paranoia oder Schikane gegenüber Eingebürgerten. Auf meine telefonische Frage, wieso die ältere Geburtsurkunde nicht ausreiche, erklärte mir der Beamte, er benötige eine bestimmte Nummer. In Bürokratistan kann der Mensch nicht sterben, ohne ein weiteres Mal mit einer Kennziffer belegt zu werden.
Während meiner Irrungen in diesem kafkaesken Labyrinth informierte mich das fürsorgliche Bestattungsinstitut, dem Wunsch meines Vaters nach Kremierung könne nur nach vorangegangener Obduktion entsprochen werden (obwohl die in jeder Hinsicht vorbildliche Palliativabteilung des Krankenhauses die letzte Phase seiner Krebserkrankung minutiös dokumentiert hatte).
ist Schriftsteller und Autor mehrerer Bücher. 2023 ist sein aktueller Roman „Tausend und ein Morgen“ bei S. Fischer erschienen und druckfrisch ist im Handel: „Das Buch der Macht – Wie man sie erringt und (nie) wieder loslässt“ im Verlag Andere Bibliothek.Schlagloch-Vorschau:11. 6. Gilda Sahebi18. 6. Georg Diez25. 6. Robert Misik2. 7.Georg Seeßlen9. 7.Mathias Greffrath
Sein Wunsch, dass seine Asche in den Bergen seiner Herkunft verstreut werde, scheiterte zunächst an dem in fast allen Bundesländern herrschenden Friedhofszwang (ein preußisches Gesetz, das in der Nazizeit verschlimmbessert wurde): Ordnung muss sein, auch bei Urnen. Welch ein Graus, wenn hierzulande die aus Hollywood bekannte Manier, die Großmutter auf dem Kaminsims aufzubewahren, Schule machte.
Als ich vor einem Jahrzehnt eine Schwäbin zu ehelichen begehrte, verlangte das Standesamt – Sie ahnen es – meine aktuelle Geburtsurkunde sowie neben den Scheidungspapieren meiner ersten Ehe auch die vorangegangene Heiratsurkunde. Was mit großen Schwierigkeiten verbunden war, weil ich unbedachterweise in Südafrika geheiratet hatte. Auf meine Frage, ob die Scheidungspapiere denn nicht bewiesen, dass ich keine Bigamie begehen würde, erwiderte die Beamtin, der Gesetzgeber müsse jede Eventualität berücksichtigen. Ein grausamer Denkfehler – Gesetze sollten den allgemeinen Fall, die gängigen Konflikte regeln und nicht einen Wust an Verordnungen hervorbringen, um jeden nur vorstellbaren Einzel- und Sonderfall zu reglementieren. Dieser Kontrollwahn führt zu einer Erniedrigung des Menschen, einem aufgeblähten Staatsapparat und einer hysterischen Klagewut, die in Deutschland die Gerichte überlastet. Ein antiaufklärerisches Projekt, das von der Unmündigkeit der Bürgerinnen ausgeht und diese perpetuiert. Ganz zu schweigen von der unwürdigen Situation in intimen Stunden der Trauer als Bittsteller vor Amt erscheinen zu müssen und unzählige Stunden Lebenszeit zu verschwenden.
Wie kann es sein, dass Demokratieabbau überwiegend ein Programm der Rechten geworden ist? Dass Präsidenten wie Javier Milei und Oligarchen wie Elon Musk in theatralischer Pose die Kettensäge schwingen, mit katastrophalen Folgen für die soziale Gerechtigkeit in ihren jeweiligen Ländern. Wie kann es sein, dass vor allem Industrie- und Wirtschaftsverbände weniger Bürokratie fordern, so als wäre dieses Problem staatlicher Übergriffigkeit allein eine Frage ökonomischer Effizienz. Wie kann es sein, dass wir vergessen haben, wie zentral die Idee der Freiheit für alles Progressive war, darunter auch Freiheit von administrativer Gängelung. Höchste Zeit, daran zu erinnern, dass staatliche Apparate sich an ihren stets wachsenden Aufgaben mästen und von sich aus nie eine Schlankheitskur in Angriff nehmen werden. Würde Google Maps neben Karte und Satellitenaufnahme auch bürokratische Stricke abbilden, wir würden erkennen, wie sehr wir als Individuen und Firmen gefesselt sind. So wie Gulliver bei den Liliputanern – selbst ein Riese wird von unzähligen Kleingeistern zu Boden gebracht.
Vor etwa hundertdreißig Jahren schrieb der bulgarische Dichter Stojan Michailowski folgende Zeilen, die es auf den Punkt bringen: „Es heißt, die Bürokratie sei ineffizient, doch ich widerspreche entschieden. Sie allein ermöglicht den Stillstand. Es wird behauptet, sie sei entmenschlicht, doch dem kann ich nicht zustimmen, denn sie schützt uns vor dem Eigensinn des Menschen. Es wird geklagt, sie schränke die Freiheit ein – wie wahr, das muss sie auch, denn die Freiheit würde sie überflüssig machen.“
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 50.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen