schlagloch: Das Rätsel der Veränderung
Ein Problem der aktuellen Debatte ist, dass Kämpfe nicht benannt, reale und vor allem materielle Zusammenhänge nicht formuliert werden
Georg Diez
ist Chefredakteur von „The New Institute“. Zuletzt erschien von ihm das Buch „Blogdown. Notizen zur Krise“ im Frohmann Verlag.
Ich versuche zurzeit oft zu verstehen, auch an dieser Stelle, wie Veränderungen passieren, wie wir sie vorantreiben können, was die Allianzen und was die Gegenkräfte sind. Das verschiebt sich, manchmal ist dort, wo gerade noch vorne war, auf einmal eher hinten, und umgekehrt kommt Energie manchmal von dort, wo man es nicht erwartet.
Die Veränderungen sind gerade aber auch so grundsätzlich, technologisch, ökonomisch, sozial, das ganze Weltbild betreffend, dass die Widerstandskräfte fast von selbst entstehen müssen, wie in der Physikstunde damals, als das Weltbild Newtons erklärt wurde und die Beziehung von Actio und Reactio – die einen drängen nach vorne, die anderen sind dagegen.
Dieses Bild von Veränderung gibt dem Ganzen eine Art Ordnung, baut klare Gegner auf, sieht Veränderung oder Fortschritt als Nullsummenspiel, die einen gewinnen, die anderen verlieren. Es ist das naturwissenschaftliche Weltbild, wie es bis ins frühe 20. Jahrhundert galt – und im Denken im Grunde bis heute, selbst wenn die Revolution der Quantenphysik durch Bohr, Einstein, Heisenberg und andere die Vorstellung von Welt und damit auch der Veränderung oder Veränderbarkeit von Welt fundamental erschüttert hat.
In der Vorstellung der Quantenphysik spielt Unsicherheit eine überaus große Rolle, weil die Welt, im Gegensatz zu dem, was Newton im 17. Jahrhundert formuliert hat, nicht all das ist, was wir sehen – die Einsicht kann zu größerer Offenheit und Gelassenheit führen, fast in einem buddhistischen Sinn, das Gleiten der Welt also als Realität; sie kann aber auch zu Verwirrung und Verstörung führen, zu Ablehnung, Verweigerung, Verzweiflung, in letzter Konsequenz zweifellos sogar zu Gewalt.
Benjamin Labatut hat das in einem fantastischen, wirklich im Wortsinn fantastischen Buch beschrieben, das ich nur allen zum Lesen empfehlen kann. Es heißt auf Englisch „When We Cease to Understand the World“, was sehr viel mehr den Kern des Buches trifft als der deutsche Titel „Das blinde Licht: Irrfahrten der Wissenschaft“ – denn bei aller Liebe zum Suhrkamp Verlag, wo das Buch schon vor einer Weile erschienen ist, es geht nicht um Irrfahrten der Wissenschaft, es geht um ein Erdbeben, physikalisch und metaphysisch, das größer ist als alles, was wir uns vorstellen können.
Labatut, ein sprachlich ungemein talentierter chilenischer Schriftsteller, erzählt die Geschichten der großen Mathematiker, Chemiker, Physiker vor allem des 20. Jahrhunderts, wobei Werner Heisenberg eine zentrale Rolle einnimmt. Der Einblick in die Komplexität der Welt, um einen etwas banalen Ausdruck zu verwenden, führt sie alle an den Rand ihres Verstandes und ihrer Vernunft und manche in so etwas wie Wahn oder Wahnsinn.
Der englische Titel macht dabei sehr schön klar, dass dieser Zustand kollektiv ist, es ist das Wir in der Verwirrung, was eine auch politische Bedeutung bekommt – die Welt, die wir geschaffen haben, können und werden wir nicht verstehen, das ist eine der Botschaften dieses romanhaft überhöhten Berichts von Erkenntnissen von atemberaubender Schönheit und Verwüstung; die Konsequenz davon ist, dass wir einen Weg finden müssen, in dieser Verwirrung zu leben, ohne in ihr zu verharren.
Und hier, unter anderem, fangen die Schwierigkeiten an, weil unsere Abmachung eine andere ist, politisch, menschlich, sozial – wir können, wir müssen verstehen, was geschieht, darauf ist unsere Vorstellung von Demokratie genauso gebaut wie die Beziehungen in Familie und Gesellschaft, die Identität und Individualität genauso wie die Vorstellung von Fortschritt und Veränderung.
Was also bedeutet es, wenn wir die Welt nicht mehr verstehen?
Das Buch von Labatut macht in gewisser Weise den Kopf klar und frei für eine andere Realität, es ist eine Denkübung jenseits von festgelegten Prämissen von Rationalität – und das ist notwendig, diese Offenheit für das radikal Andere, um zu Veränderungen zu kommen. Es ist auch ein Loslassen von Bekanntem, es geht darum, die Unsicherheit als eine Konstante ins eigene Leben und Denken einzubauen.
Wer das verleugnet, wird leicht und ganz im Sinne Newtons: reaktionär – verleugnet also die komplexe Natur unserer Welt und die Limits dessen, was wir wissen und verstehen können. Es ist fast eine Art von kindlichem Trotz, ein Beharren darauf, sich sein Weltbild nicht durch die Wirklichkeit kaputtmachen zu lassen, eine Wirklichkeitsflucht also, in Parallelrealitäten und -wahrheiten, eine Weltflucht.
Veränderung also, und das ist keine Banalität, findet immer in der Welt statt – Veränderung hat eine materielle Grundlage, sie ist nicht symbolisch, auch wenn Narrative oder das Framing von Realität eine Rolle spielt. Das heißt aber auch, dass die Kämpfe für Veränderung real sind, nie allein symbolisch, weil es um Interessen geht, die sehr klar zu benennen sind.
Ein Problem nun der aktuellen Debatte scheint mir zu sein, dass diese Auseinandersetzungen und Kämpfe nicht benannt werden, dass reale und vor allem materielle Zusammenhänge nicht formuliert werden – der Umstand etwa, dass die zehn reichsten Männer dieser Erde ihren Reichtum während der Pandemie verdoppelt haben, wird zwar gemeldet, es wird aber nicht in direkte Verbindung zu Fragen gesetzt, wie unsere Gesellschaften auf die Folgen der Coronapandemie reagieren sollen.
Ich frage mich, warum das so ist. Es ist ja offensichtlich ein massives Problem. Ist es zu groß, um es zu sehen, wie es Timothy Morton beschrieben hat, der Kapitalismus als Hyperobjekt, das alle sehen, aber nur wenige begreifen oder begreifen wollen?
Labatut, so haben manche das Buch verstanden, handelt auch von der Klimakrise – es ist eine zentrale Frage unserer Zeit, wie wir aus Komplexität Handlungsoptionen entwickeln.
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