schlagloch: Sterben erzählt vom Leben
In der Coronakrise wird viel von dem deutlich, was bislang falsch gelaufen ist. Wir haben zu wenig besprochen, was die Prämissen unseres Todes sein sollen
Georg Diez
war lange Jahre Kolumnist für „Spiegel Online“ und arbeitet derzeit für einen Thinktank, der sich mit Fragen der ökologischen und ökonomischen Transformation beschäftigt. Zuletzt erschien sein Buch „Das andere Land“
Corona ist eine Geschichte des Todes. Sehr direkt und auch im übertragenen Sinn. Es gibt viel Leiden und Schmerz, Angst und Einsamkeit. Viele Helfer*innen, Mediziner*innen, Krankenhausmitarbeiter*innen, die bis an den Rand ihrer Kräfte gehen. Die Bilder des Sterbens sind furchteinflößend, sie wirken anonymisiert, industriell, es ist eine Maschine, die funktioniert oder auch nicht.
Diese Bilder wirken, direkt, sie wirken politisch, sie schaffen eine gesellschaftliche Realität. Für mich tut sich dabei, je länger diese Krise dauert, ein Widerspruch auf: Manche der Reaktionen auf das Virus haben, glaube ich, damit zu tun, dass die Frage des Todes auf eine Art und Weise geklärt werden soll – in vielen Fällen womöglich notwendigerweise – die das Leben in der Fülle seiner Facetten außer Acht lässt.
Es war der so inspirierende Denker Charles Eisenstein, der mich darauf stieß, in einem der besten Texte über die Pandemie, den ich bisher gelesen habe. Er heißt „The Coronation“, und Eisenstein beschreibt darin die zivilisatorischen Widersprüche, die in der Coronakrise aufeinandertreffen, von der Zerstörung der Umwelt, die die Immunabwehr des Menschen mittelbar und unmittelbar betrifft, bis zur Frage darüber, wie wir sterben wollen.
Eisenstein nennt das, was wir erleben, einen „Krieg gegen den Tod“. So weit würde ich nicht gehen. Aber in der geschichtlichen Perspektive hat er, glaube ich, recht: „Ich habe gesehen, wie die Fragen von Sicherheit, Gesundheit und Risikovermeidung in der Gesellschaft immer wichtiger wurden“, schreibt er. Vor allem die Kindheit, meint er, würde von diesem Sicherheitsdogma überwölbt. Die Konsequenz ist, dass Risiko, Leid, letztlich Freiheit und Tod einer Art Verdrängungsprozess ausgesetzt waren und sind.
Ich habe mich schon öfter mit dem Tod beschäftigt: Ich habe über den Tod meiner Mutter ein Buch geschrieben, das eigentlich von ihrem Leben handelte; und ich habe versucht zu erklären, warum der Suizid in der Philosophie und auch, für manche Menschen, im Leben mit einem Gefühl von Freiheit verbunden ist. Aber in den ersten Tagen und Wochen des Virus und des Lockdowns, der auch ein Lockdown des Denkens und Sagens war, war ich genauso verstört, verwirrt, verstummt wie viele andere. Ich wusste nicht, was wir erlebten. Und was ich las, dachte ich, das berührt manches, aber nicht das Eigentliche.
Was das allerdings sein kann, das Eigentliche im Kontext der Angst vor der Krankheit, das entglitt mir. Eisenstein nun zeigte mir eine mögliche Art, über diese Krise nachzudenken: Seine Grundannahme ist, dass die Gesellschaft durch den technischen Fortschritt ein Bild des menschlichen Lebens geschaffen hat, das allzu leicht auf das Biologische reduziert wird. In der gegenwärtigen Krise heißt das, dass Virologen den Ton angeben und die medizinischen Möglichkeiten entscheidend sind.
Es ist nicht das „nackte Leben“, wie es der Philosoph Giorgio Agamben genannt hat – es ist vielmehr das gerettete Leben, also die Vorstellung davon, dass Rettung an sich mit allen Konsequenzen richtig ist. Und hier fängt das Problematische in der gegenwärtigen Situation an: der Automatismus, mit dem Maßnahmen, die möglich sind, und deshalb durchgeführt werden, nun als gesellschaftliche Grundannahme und Grundlage für konkretes politisches Handeln dienen.
Ich kenne das Dilemma vom Sterben meiner Mutter. Wie erkennt man den richtigen Zeitpunkt, ab dem es besser ist, nichts mehr zu tun, statt das zu tun, was mehr Leiden schafft – und dazu gehören auch die psychischen Leiden? Meine Mutter wollte auf keinen Fall auf einer Intensivstation sterben. Sie wollte so sterben, wie sie gelebt hatte. Selbstbestimmt. In der Umgebung, die sie liebte. Als sie, ein paar Tage vor ihrem Tod, ins Krankenhaus kam, weil sie Wasser in ihrer Lunge hatte und punktiert werden musste, da schaute sie mich traurig an und sagte: „Aber du hast es mir doch versprochen“, weil sie dachte, dass sie nicht zu Hause sterben würde.
In dieser Krise wird vieles von dem deutlich, was wir als Gesellschaft in der Vergangenheit verpasst haben und was falsch gelaufen ist, ökonomisch, ökologisch, infrastrukturell, sozial, an Wertschätzung und Wertschöpfung. Aber nicht nur das: Wir haben auch zu wenig besprochen, was die Prämissen des Todes sein sollten. Wie wollen wir sterben? Diese Diskussion ist nicht offen genug geführt worden, und wenn, dann sehr spezifisch im Kontext etwa des assistierten Suizids – und deshalb stehen wir nun da, und die einzige Form des Todes, die gerade praktiziert wird, so scheint es, ist die des medizinisch-industriellen Todes.
Was möglich ist, wird auch gemacht. Das ist das Paradigma der Moderne. Es hat uns weit gebracht. Auch an unsere Grenzen. Ich sage nicht, dass ich eine Antwort habe auf diese Frage, wie wir sterben wollen. Welches der Moment ist, an dem es besser ist, jemanden sterben zu lassen, als sie oder ihn aufzuhalten. Es ist, das habe ich gesehen, eigentlich unmöglich. Und doch ist es ein Ziel. Es ist etwas, das wir wenigstens bedenken, besprechen, im Diskurs wachhalten sollten. Wie wir sterben, sagt auch viel darüber aus, wie wir leben.
Das Sterben ist eine Geschichte vom Leben. Und umgekehrt. Das heißt nicht, dass eine Gesellschaft nicht alles unternehmen sollte, was medizinisch möglich ist. Es heißt aber schon, dass man das zusammen mit Würde, Autonomie und der Suche nach dem guten Tod diskutiert. Und dann kommt man am Ende möglicherweise zu einer Antwort auf die Frage nach der richtigen Strategie in dieser Krise, die eine virologische genauso wie eine ethische ist.
Antworten werden wir auf beiden Feldern finden müssen, und weit darüber hinaus. Und diese Diskussion beginnt gerade erst. In ihr zeichnet sich aber das Bild einer zukünftigen Gesellschaft ab.
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