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schlagloch von Mathias GreffrathRot ist ein Langzeitprojekt

100 Jahre nach Lenin klingt das Wort „Sozialismus“ wieder fortschrittlich

MathiasGreffrath

lebt als freier Autor für Print und Radio in Berlin. Er ist Herausgeber von „RE: Das Kapital – Politische Ökonomie im 21. Jahrhundert“ (Kunstmann, 2017).

Als ich ihn da liegen sah, habe ich gedacht: hoffentlich bleibt er noch lange frisch. Ich möchte, dass meine Urenkel ihn auch noch sehen.“ Sommer 1990 vor dem Lenin-Mausoleum: Die Sowjetunion löste sich mehr oder weniger geräuschlos auf, und Abdulljina Jewjassina war mit ihren beiden Enkeln aus Tadschikistan angereist. „Wir verehren unseren Lenin sehr“, sagte sie und ihre stählernen Zahnkronen blitzten, „wir haben unser Leben lang hart gearbeitet.“ Tanja, meine Dolmetscherin, war frisch getauft, aber noch nicht bibelfest, bekreuzigte sich mal so rum und mal so rum. „An irgend etwas muss man glauben“, lächelte sie. Später zeigte mir ihre alte Tante die „Knochen vom Pferd des heiligen Georg“ und seufzte: „Wir haben viel gesündigt. Uns nicht taufen lassen. Nun warten wir auf ein neues Geschlecht von Menschen. Im neuen Jahrhundert wird es kommen.“

An irgend etwas muss man glauben – in der Schule lernten wir, der Kommunismus sei eine „Ersatzreligion“. 25 Jahre nach meinem Besuch im Lenin-Mausoleum ist die Einheit von Altar und Thron, Pardon: Präsidentensessel wieder hergestellt, jeden Tag werden drei Kirchen in Russland gebaut, die alten mit Spenden der neuen Oligarchen frisch vergoldet, Nikolaus II. ist als Märtyrer heiliggesprochen, die Kirche so reaktionär wie im 19. Jahrhundert.

Für Lenin war die Religion nichts als Ersatz: „geistiger Fusel“, von den Herrschenden ausgeschenkt, damit die Beherrschten stillhalten. Der antireligiöse Terror im Bürgerkrieg kostete Tausende von Priestern, die sich der Enteignung der Kirchengüter widersetzten, das Leben. Aber Lenins vulgärmaterialistischer Furor war selbst in der Partei umstritten. Philosophen wie Luna­tscharski, der spätere Kommissar für Volksaufklärung, und Wissenschaftler wie Bogdanow, der die proletarische Kulturbewegung gründete, sahen in den religiösen Erzählungen einen Schatz vorratio­naler Menschheitshoffnungen, und Gorki übersteigerte die Religionskritik des 19. Jahrhunderts zur Vergottung der kreativen Kräfte des Volkes. „Die gottlose und antichristliche Idee des Kommunismus wird von religiösen seelischen Energien getragen“, schrieb der christliche Existenzialist Nikolai Berdjajew, der als Reaktionär 1922 aus Russland ausgewiesen wurde. Er biete eine „ganzheitliche Weltauffassung“, die sich „der ganzen Seele des Menschen bemächtigt und in ihr den Enthusiasmus und den Willen zum Opfer“ auslöse. Gerade deshalb sei er eine „Mahnung an die unerfüllte christliche Aufgabe und Pflicht“, denn „nichts widerspricht dem Geist des Christentums mehr als der Geist der kapitalistischen Gesellschaft“.

Nicht der Kommunismus habe 1917 in Russland die Macht erobert, so schreibt es Gert ­Koenen in seinem monumentalen Buch „Die Farbe Rot“, sondern Lenin und seine Partei, die mit Terror und Lagern, Erziehung und Kollektivierung die russischen Bauernmassen a tempo in die industrielle Moderne zwingen wollten, in einem „verspäteten“ Land, das keines der Marx’schen Kriterien für eine sozialistische Revolution erfüllte. „Zur Wiederholung nicht empfohlen“, warnt zu Recht der Historiker Heinrich August Winkler in seinem Jubiläumsartikel zur Oktoberrevolution, aber dann verschleift er in gewohnter Manier die Differenz zwischen Kommunismus und Bolschewismus, Marx und Lenin: „Die Revolution der Bolschewiki war eine Gegenrevolution gegen die […] amerikanische von 1776 und die französische von 1789, gegen das von ihnen entwickelte normative Projekt des Westens in Gestalt der Idee der unveräußerlichen Menschenrechte, der Herrschaft des Rechts, der Gewaltenteilung, der Volkssouveränität und der repräsentativen Demokratie.“ Und die geistigen Väter dieser Gegenrevolution seien Marx und Engels gewesen. Diese bürgerlich-liberale Lesart der Marx’schen Revolutionstheorie ist nicht nur geistesgeschichtlich unscharf; in unserem Zeitalter globaler Ausbeutungsketten, lädierter Menschenrechte in Rohstoffländern und marktkonformer Demokratien im „Westen“ muss man sich schon anstrengen, um zu übersehen, dass das „normative Projekt von 1789“ (Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit) unter den Bedingungen kapitalistischen, profitabhängigen Privateigentums an den Produktionsmitteln nicht realisierbar, also immer noch unfertig ist – was neben der Kritik der politischen Ökonomie auch die Lektüre der linksbürgerlichen Helden Kant, Rousseau, Schiller, selbst Hegel nahelegt. It’s immer noch the economy, stupid.

Gert Koenens Kommunismus-Buch rekapituliert das umfassendere „Projekt des Westens“: Es zieht den roten Faden nach, der vom Gerechtigkeitspostulat der Thora über die urchristlichen Gemeinden, Aristoteles’Polemik gegen den Gelderwerb, die Täuferbewegungen und utopischen Romane der frühen Neuzeit, die kommunistischen Kolonien in Amerika, die Parolen der Französischen Revolution bis hin zum deutschen Idealismus und seinen Erben reicht. Koenens Resümee: Wenn man die Geschichte all dieser sozialen Bewegungen, philosophischen und religiösen Systeme verfolge, wäre es „leichter nachzuvollziehen, warum moderner Sozialismus und Kommunismus dem Gedanken- und Gesellschaftslaboratorium der christlich-abendländischen Welt entsprungen sind – als umgekehrt, warum Europa zur Geburtsstätte jener sämtliche Formen ursprünglicher Gemeinschaft sprengende Produktions- und Lebensweisen werden konnte, die man heute als ‚Kapitalismus‘ bezeichnet“.

Nichts widerspreche dem Geist des Christentums – und dem europäischen Erbe – mehr als der Geist der kapitalistischen Gesellschaft, sagt heute in radikaler Regelmäßigkeit der Papst. Aber es kommt kein Echo aus den Regierungsstuben. Und auch nicht aus den Redaktionen. Aber vielleicht wäre es ja an der Zeit, die semantische Zurückhaltung aufzugeben. In England klingt das Wort „Sozialismus“ jedenfalls neuerdings auch im Parlament ganz frisch – und wie sagte der Bürger Diderot: Fortschritt besteht darin, falsche Ideen vom Sockel zu stoßen und zu Unrecht gestürzte wieder draufzustellen. Rot ist ein Langzeitprojekt, und das neue Jahrhundert nimmt gerade erst Fahrt auf.

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