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rösingers revueVon Holzfilmen und Stofffilmen

Ach, so ein Filmfestival ist schon toll. Auf einmal bekommt das Leben Sinn und Struktur! Morgens steht man in aller Herrgottsfrühe auf, um pünktlich zur 12-Uhr-Vorstellung am Potsdamer Platz zu sein. Noch ganz müde läuft man zur Bushaltestelle. Plötzlich sind die Straßen verschneit, alles erscheint viel poetischer, sinnstiftender als sonst. Sogar die übliche Gruppe Stressjugendlicher mit Migrationshintergrund sitzt friedlich beisammen und sagt gemeinsam Hiphop-Reime auf bei der Fahrt durchs winterliche Kreuzberg.

Und dann im Kino, Paris 1915, ist plötzlich das allerselbe Wetter! Schnee und Armut im Vorort, arg viel braunes, feuchtes, grünlich versportes, zerborstenes, dunkles Holz hat man da verbaut, um die jämmerlichen Lebensumstände zu illustrieren –schließlich gab es mit „La vie en rose“ die Schicksalsjahre der Edith Piaf zu Mittag. Und man hat es echt nicht leicht, so als Sängerin aus der Gosse, die zu den Sternen aufsteigt. Viele starke Drogen muss man nehmen und eimerweise Champagner trinken, um so zu reifen! Piaf-Darstellerin Marion Cottilard könnte eigentlich jetzt schon den Bären als beste Schauspielerin mitnehmen, hat sie doch alles gegeben, was so eine Auszeichnung verlangt: Sie war zuerst jung und schön, dann hässlich, alt, kahlköpfig und arthritisch und zwischendurch immer mal wieder bucklig und sabbernd.

So langsam versucht man sich in den Rhythmus des Festivals „einzugrooven“, wie altmodische Musiker sagen, aber es dauert noch. Die Berlinale selbst ist ja noch nicht so richtig in die Gänge gekommen, man selbst grübelt und zaudert noch viel, wühlt immer wieder zwanghaft in den vielen roten, gelben und lila Zetteln, die es zu lesen gilt, versucht einen Plan zu machen und halbwegs zur richtigen Zeit egal wo zu sein.

Aber es ist schwierig. Erfahrenere Berlinalisten beruhigen einen, es habe gar keinen Sinn, das System durchschauen zu wollen, der Durchblick käme schon ganz von allein, ungefähr am letzten Festivaltag. Also lässt man sich immer mehr vom Zufall leiten.

So kann es geschehen, dass man als Kunsthasserin plötzlich in einem Dokumentarfilm über eine New Yorker Künstlerin koreanischer Abstammung sitzt, die sinnlos in der Welt herumreist, weil sie ihr Leben irgendwie als Performance begreift und berühmte Collectors und Modeschauen besucht. Wunderschön ist dann die plötzliche Erkenntnis: Ich kann ja einfach gehen! Es hält mich keiner, ich muss ja gar nicht! Und darauf folgt gleich die nächste Einsicht: Deshalb sitzen so viele Leute am äußersten Rand!

Ein Stockwerk höher beginnt zum Glück gerade ein farbenprächtiger japanischer Film über eine Kurtisanenschule in Edo, dem frühen Tokio um 1700. Da wird viel Opium geraucht, und farbenfrohe Bilder von der Kirschbaumblüte, von schimmernden Fischen, raffinierten Kostümen und prächtigen Stoffen, Wandabhängungen und Bettüberwürfen erfreuen das Auge. Und weil der einfache Geist immer Ordnung und Struktur schaffen will und deshalb Verbindungen herstellt, wo gar keine sind, klassifiziert man „Sakuran“ sofort unter das Genre Stofffilm und denkt dann gleichzeitig zurück an den weit entfernten „La vie en rose“, der doch, im Vergleich gesehen, eher ein Holzfilm war.

Dann steht man nachher im leichten Schneefall an einer zugigen Ecke und spricht über Stofffilme, Holzfilme und das, was in den nächsten Tagen noch alles kommen könnte. Gegenüber am Berlinale-Palast mit seinem dämlichen roten Teppich leuchten schon längst wieder die Scheinwerfer. Und während sich dort die allabendliche affige Betriebsamkeit ausbreitet, läuft man wohlgemut zur Bushaltestelle und denkt: Zum Glück bin ich keine ernsthaft Medienschaffende! CHRISTIANE RÖSINGER

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