robin alexander über Schicksale : Er wird es uns allen zeigen
Norbert Robert Alarich He-Sung wird es weit bringen in diesem Land. Ihm ist es zu wünschen. Uns nicht
Zuerst die Attribute, die seine Anonymität noch nicht verletzen: ein mittelgroßer, junger Mann mit gepflegtem Äußeren und Auftreten, ein Student der Naturwissenschaften. Mit dieser Beschreibung kann er nicht gefunden werden. Aber seine Geschichte kann man so auch nicht erzählen. Dafür brauchen wir sein Gesicht: asiatische Züge, Mandelaugen, aber auch deutsche Kanten. So schaut einer aus, dessen Mutter aus der westdeutschen Provinz und dessen Vater aus Südkorea kommt. So schaute keiner sonst aus auf unserem Gymnasium. Wo er heute wohnt, weiß ich nicht, aber jemand wie er fällt in Deutschland auf.
Seinen angeblichen Namen hielt ich so lange für Angeberei, bis er mir auf einer Klassenfahrt seinen Personalausweis unter die Nase hielt. Gleich vier Vornamen: ein Rufname im Klang der 50er-Jahre, ein zweiter ganz ähnlich, dann einer eines vergessenen germanischen Helden, schließlich ein sehr schöner Name aus Korea, der die Bewegung eines Gestirns am Himmel thematisiert. Ich merke gerade, es reicht nicht, solche Namen zu beschreiben. Ich merke gerade: So einen Namen muss man aussprechen, auch wenn er so seltsam ist, dass ihn doch keiner glaubt: Norbert, Robert, Alarich, He-Sung. So weit zu den Vorname. So unverfroren, auch noch seinen Nachnamen an die Öffentlichkeit zu verfüttern, bin ich dann doch nicht.
So einen schweren Schatz an Namen haben sonst wohl nur die Kinder von Rudi Dutschke. Leider ist der Vater dieses Jungen nicht Studentenführer oder vielleicht Manager bei Daewoo, sondern wohnt in einem städtischen Asyl für Leute, die ihre Miete nicht mehr zahlen konnten. Duschen gibt es dort nicht, dafür klopfen morgens um 6.30 Uhrzwei Franziskanerpatres an die Türen, um die Bewohner zum morgendlichen Besuch eines Hallenbades zu animieren. Nicht selten ist Norbert der Einzige im Block, der für die Hygiene so früh aufsteht. Dass er stinke, kann ihm keiner nachsagen. Wer ihn kränken will, kann ja immer noch zwischen „gelbe Wurst“ und „Assi“ wählen. Meistens aber schimpfen sie ihn „Streber“.
Eine Eins in Deutsch duldet eine normale Schulklasse, ein Sehr gut in Englisch oder Geschichte wird noch hingenommen. Aber Norbert hat in wirklich jedem Fach die besten Noten. Er paukt sogar in den Pausen und prahlt mit seinen Ergebnissen. Weil alle anderen angewidert den Wettbewerb mit ihm verweigern, fordert er sich selbst heraus: Nach einer Zwei plus in der Matheklausur reißt er vor den Augen des entsetzten Lehrers wütend das Heft in Fetzen. Wer gut ist, das entscheidet sich natürlich nicht auf Zeugnissen. Sondern an den Tischtennisplatten im Pausenhof. Verliert Norbert, zerwirft er den Schläger. Meist gewinnt er.
Schlimm wird es, als es plötzlich um Mädchen geht. Norbert ist nicht groß und das Gegenteil von lässig. Jede will einen Exoten, keine so einen wie ihn. Geld hat er auch nicht, kauft also ein Mofa vom Schrott. Das Startpedal fällt schon bei der ersten Fahrt ab. Damit das Ding anspringt, muss er es nun unter dem Gelächter der halben Schule dreimal um die Fahrradständer schieben. Jeden Tag zum Schulschluss. Natürlich wird Norbert ein echtes Arschloch: In der Oberstufe ist er so weit, durch kluge Fragen Unwissende im Unterricht bloßzustellen. Beim Schülerstreik gegen den Golfkrieg sitzt er mit aufgeschlagenem Heft im leeren Klassenraum. Norbert verweigert nicht einmal den Kriegsdienst. Als ich seine Karriereträume auslache, sagt er zu mir:
– „Wart ab. Ich werde es schaffen. Leistung zählt, und die bringe ich. Geld, Freunde, Frauen –kommt dann alles ganz von alleine.“
– „Klingt wie aus einem amerikanischen Film.“
– „Ja.“
– „Gerade für dich hat der Kapitalismus doch nichts außer dem vagen Versprechen, irgendwann selbst oben zu sein.“
– „Ja.“
Es ist übrigens gar nicht so einfach, den Yuppie zu spielen, wenn man einen Teil seiner Klamotten von der Caritas bekommt. Aber solche Differenzierungen sind nicht wirklich angesagt in einer links gestrickten Oberstufe der 90er-Jahre, die ihre Köpfe zu Rage against the Machine schüttelt. Norbert ist gesellschaftlich unmöglich. Und er genießt es sehr zum ersten Mal, aus freien Stücken Außenseiter zu sein. In der Tat: Umgeben von langen Haaren und Piercings ist Norbert der einzige echte Rebell. Die Urkunde für das beste Abitur seines Jahrgangs nimmt er ordentlich gekämmt entgegen. Ein teures Jackett hat er zwar nicht: Dafür trägt er ein T-Shirt vom Grünen Punkt, worauf steht: Ich war eine Flasche.
Auf Treffen zum fünften Abiturjubiläum taucht Norbert nicht auf. Schulkameraden hat er ja nicht wirklich gehabt. Einer erzählt, er habe Biochemie und Medizin studiert. Ein anderer vermutet, er sei bei einem internationalen Konzern. Kein Zweifel: Unser Norbert wird es weit bringen in diesem Land. Ihm ist es zu wünschen. Uns nicht.
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