restrauschen: Ostfront-Frühstück
Juni 1941 – der tiefe Schnitt, Deutschlandfunk, 7.50 Uhr
Beim Frühstücksei ist die Welt noch heil. Da ertragen wir vor Restmüdigkeit sogar lustige Morgenmoderatoren, die wir eigentlich zum Kotzen finden. Und wer einen Nachrichtensender hört, spült die Schlechtigkeit der Welt einfach mit gutem Kaffee runter.
Der Deutschlandfunk hat eine Sendereihe konzipiert, die hingegen nicht so klingt, als ließe sie sich einfach runterspülen. Er serviert uns die Ostfront zum Frühstück. Aus Anlass des deutschen Überfalls auf die Sowjetunion vor 60 Jahren strahlt er seit Montag die elfteilige Reihe „Juni 1941 – der tiefe Schnitt“ aus – täglich um zehn vor acht.
Nun ist es nicht so, dass die Autoren uns mit Schlachtgeräuschen aus den Betten reißen. Im Gegenteil. Es werden Zeitzeugen aus Deutschland und der ehemaligen Sowjetunion porträtiert. Beim morgendlichen Griff zur Müslipackung erfahren wir die Lebensgeschichte von Jewgenija Kazewa, die im Krieg Armeedolmetscherin war. Sie stieg zur Kulturoffizierin auf und übersetzte die Bücher von Heinrich Böll, Günter Grass und Max Frisch ins Russische.
An einem anderen Tag erzählt der Kaukasusdeutsche Rolf Biethingmeier von seiner Deportation – während wir Kaffee verschütten. Stalin ließ Biethingmeier nach dem Überfall wie viele Russlanddeutsche umsiedeln. „Er wollte die Deutschen verstreuen im ganzen Land“, erinnert sich der Zeitzeuge.
Spannende Geschichten – zur falschen Sendezeit. Der Deutschlandfunk verschenkt die anspruchsvollen sechsminütigen Porträts an die Morgenmuffligkeit. Einer aktuellen Nachrichtensendung kann man vor acht noch folgen. Den komplexen Lebensgeschichten nicht. Wer will schon beim müden Knabbern am Toastbrot etwas über die Wlassow-Armee erfahren, die während des Zweiten Weltkrieges an der Seite der Deutschen gegen Stalin kämpfte? Tiefgründige Stücke bitte erst nach acht. Ein schwacher Trost: Alle Geschichten und noch neunzehn weitere können in einer Ausstellung im deutsch-russischen Museum in Berlin-Karlshorst gelesen und gehört werden. Ein Besuch dort ist überhaupt eine gute Alternative, sich jenseits von Morgenmüdigkeit mit dem Thema zu befassen.
RALF GEISSLER
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