"Unfug zu Lasten der Umwelt"

■ Zwischen Essen und Wuppertal soll bald eine neue S-Bahn rollen. Für eine veraltete Technik wird die Strecke aufwendig umgebaut. Sparvorschläge einer Bürgerinitiative lassen die Landesregierung kalt

„Über sieben Brücken mußt du gehen“ – an diese Schnulze fühlt sich Stefan Overkamp ständig erinnert, wenn er einen Blick auf das Streckennetz des Verkehrsverbundes Rhein-Ruhr (VRR) wirft. Da, wo heute zwischen Haltern im südlichen Münsterland und Wuppertal im Bergischen Land die Regionalbahn Nr. 9 fährt, soll ab der Jahrtausendwende die S-Bahn-Linie 9 ihren Betrieb aufnehmen. Nicht über sieben, sondern gleich über ein Dutzend Brücken soll der Nahverkehrs-Carrier auf dem Südabschnitt zwischen Essen und Wuppertal rollen. „Was uns hier als Nahverkehrsfortschritt verkauft wird, ist ein teurer Unfug, der zu Lasten der Schiene und der Umwelt geht.“

Overkamp ist Sprecher einer Bürgerinitiative im niederbergischen Land, in der sich keine Gegner, sondern erklärte Befürworter des Schienennahverkehrs zusammengefunden haben. Das zeigt schon der BI-Name: S9-Plus. Als entscheidendes Minus haben die Initiativler die bulligen, 80 Tonnen schweren Elektro-Standardloks ausgemacht, die die Deutsche Bahn AG (DBAG) für die Trasse eingekauft hat: „Diese Züge sind ein technologischer Anachronismus, denn schon bei der Einführung Anfang der 80er Jahre waren sie bereits eine Verlegenheitslösung“, weiß Verkehrsplaner Overkamp.

Was Stand der Technik ist, darüber sind sich Nahverkehrsfachleute einig: Diesel-Triebwagen, die sich durch eine hohe Fahrdynamik, Flexibilität und günstige Betriebskosten auszeichnen. Je nach Auslastung in den Spitzen- und Schwachlastzeiten lassen sich Wagen an- oder abkoppeln, was mit dem von der DBAG favorisierten starren Modell nicht möglich ist. Bei der geplanten S-Bahn-Verbindung ließe sich so auf die millionenteure Elektrifizierung der 33 Kilometer langen Trasse zwischen Essen und Wuppertal verzichten. Und nicht nur das: Um die von der DBAG vorgegebenen Sicherheitsauflagen für den S-Bahn-Betrieb zu erfüllen, sollen 14 beschrankte Bahnübergänge wegfallen – statt dessen sind fast überall aufwendige Umgehungsstraßen, Tunnel sowie die bereits erwähnten Brücken vorgesehen. Für über 70 Millionen Mark sind sieben Brücken allein in Velbert vorgesehen, das damit zu einem „Klein-Venedig“ werden dürfte: „Diese Gelder, die offiziell als Förderung des Nahverkehrs laufen, machen den motorisierten Individualverkehr attraktiver und erschweren so das Umsteigen auf Busse und Bahnen“, befürchtet die Bahn-Initiative. Statt der Brücken und Tunnel setzen Overkamp und seine Mitstreiter auf moderne Zugsicherungstechnik wie beispielsweise die sogenannte „elektronische Sicht“ für den Lokführer sowie verbesserte Bremsen der Triebwagen.

Unterm Strich könnte nach Berechnungen der S9-Plus-Initiative etwa die Hälfte der Investitionssumme gespart werden, die von ursprünglich 350 auf mittlerweile 463 Millionen Mark geklettert ist. Ein weiteres Plus: „Mit unserem Konzept könnte die neue S-Bahn in zwei Jahren an den Start gehen“, geben sich die alternativen Verkehrsplaner optimistisch.

Beifall gab es für das alternative S9-Konzept bislang nur aus Fachkreisen, was fehlt, ist die politische Unterstützung. Denn das brächte ein feinaustariertes Zusammenspiel zwischen dem Bundesverkehrsministerium, dem Land Nordrhein-Westfalen, der Deutschen Bahn AG und dem Verkehrsverbund Rhein-Ruhr ins Wanken. Im Sommer '93 hatten die Düsseldorfer Landesregierung und die damalige Deutsche Bundesbahn nach mehr als zwanzigjährigem Hickhack den Bau der S9 vertraglich vereinbart, nachdem von der Bundesregierung ein 60prozentiger Zuschuß für das Bahnprojekt zugesagt worden war. Damit die S-Bahn auch wirklich rollt, muß der VRR als vierter Akteur bei der Bahn AG nur noch die entsprechenden Verkehrsleistungen einkaufen. Dieses Bestellerprinzip gilt seit Anfang 1995, als die Regionalisierung des Nahverkehrs auf der Schiene Gesetz wurde.

Als Besteller, so die Forderung der S9-Plus-Initiative, müßte der VRR Einfluß auf die Fahrzeugtechnik nehmen: „Es kann doch nicht sein, daß die Bahn dem Verkehrsverbund ihr überholtes Equipment aufdrängt.“ Diethard Blombach, Sprecher des europaweit größten Verkehrsverbundes, sieht das ganz anders: „Wenn wir jetzt anfangen, am Vertrag rumzukritteln, ist die S9 politisch tot.“ Daß das Bundesverkehrsministerium unter fadenscheinigem Vorwand die zugesagten Gelder kurz nach dem Beginn der Bauarbeiten im August 1995 für ein paar Monate einfror, ist in Düsseldorf und in Gelsenkirchen, dem Sitz der VRR-Zentrale, als Warnung verstanden worden. Beim Milliarden- Haushaltsloch wäre dem Bund jeder Anlaß recht, die zugesagten Gelder wieder einsacken zu können, lautet die Befürchtung.

Auch von der DBAG hat die Verkehrsinitiative keinen Beifall zu erwarten, im Gegenteil: „Mit der S9 hat die Bahn ein millionenschweres Füllhorn aufgetan.“ Für die Nutzung der Trasse, jahrelang vernachlässigt und nun mit öffentlichen Geldern technisch überholt, werde die Bahn dem VRR demnächst jährlich einen zweistelligen Millionenbetrag in Rechnung stellen. Konsequenz: Die S9 fahre ein jährliches Defizit von über 19 Millionen Mark ein, das alle im VRR organisierten Städte zu tragen haben. Die Bestellung der alten Loks wertet die S9-Plus-Initiative auch als gezielte Abwehrstrategie der Bahn, um ihr Monopol zu verteidigen: Denn für die Schienenfahrzeuge würden jetzt Bahnsteige mit 96 Zentimeter Höhe gebaut, an denen die für eine Einstiegshöhe von 76 Zentimeter konzipierten modernen Triebwagen nicht halten können.

Von gezielter Strategie will die Nahverkehrsabteilung im Essener DBAG-Regionalbüro nichts wissen. Die Planungen seien bis zum Vertragsabschluß mit allen Städten an der Trasse abgestimmt worden. Von heute auf morgen könne das Fahrzeugkonzept nicht gekippt werden: „Bei der Fahrzeugindustrie müssen wir derzeit mit einer fünfjährigen Lieferzeit rechnen.“ Wenn der Fahrzeugpark umgestellt würde, dann nur in einem Gesamtkonzept: Für den Betrieb einer einzelnen Linie wäre das sonst einfach unwirtschaftlich. Die alternativen Überlegungen seien schlicht zu spät gekommen.

„Rechtzeitig“ kontern hingegen die Initiativler. Sie setzen auf NRW-Verkehrsminister Wolfgang Clement. Denn er muß aus seinem Etat den Bau der neuen Trasse jetzt vorfinanzieren, das Bundesverkehrsministerium wird seinen Anteil erst nach der Jahrtausendwende bis zum Jahr 2015 abstottern. Die S9 wird Clement ohnehin mehr Geld als geplant kosten, denn allein in den vergangenen fünf Jahren sind die Investitionskosten von 350 auf 462 Millionen gestiegen: „Warum da niemand in der Landesregierung unsere Sparvorschläge aufgreift, ist uns unverständlich“, wundert sich Verkehrsplaner Stefan Overkamp. Er sieht in dem Ringen um das bessere S9-Konzept auch eine Weichenstellung für den künftigen Nahverkehrsausbau auf der Schiene: „Wenn es Clement wirklich schaffen will, die S-Bahnen bis zum Jahr 2010 im 5-, 10- und 20-Minuten-Takt fahren zu lassen, findet er in dem Konzept der S9- Plus-Initiative auch machbare Vorschläge zur Finanzierung für die notwendige Nahverkehrsoffensive.“ Denn mit seinem Anfang Dezember formulierten Vorschlag, einen höheren Anteil der Mineralölsteuer zweckgebunden für den Nahverkehrsausbau einzusetzen, sei Clement beim obersten Kassenwart Theo Waigel „jetzt schon aufs Abstellgleis gefahren“. Ralf Köpke