GESISCHTER DER GROßSTADT
: "Bald bin ich sowieso im Himmel"

■ Nach mehr als 50 Jahren wieder in Berlin zu Besuch: Die Sängerin Paula Salomon-Lindberg/ 1939 konnten sie und ihr Mann mit gefälschten Papieren nach Amsterdam flüchten

Die Sängerin Paula Salomon-Lindberg lebt nicht mehr in Berlin, schon sehr lange nicht mehr, genaugenommen seit 53 Jahren. Und eigentlich wollte sie auch nie wieder in die Stadt mit dieser Vergangenheit, auch ihrer Vergangenheit, kommen. Aber dann stand eines Tages 1984 eine rothaarige, sommersprossige Frau aus der Hochschule in Berlin vor ihrer Tür in Amsterdam und bat um ein Interview. Christine Fischer-Defoy arbeitete an der Erforschung der HdK- Geschichte während der Nazizeit und sammelte in Amsterdam Material für eine Ausstellung über die in Auschwitz ermordete 26jährige Malerin Charlotte Salomon, ehemals Studentin an der Hochschule und die Stieftochter von Paula.

»Unvergeßlich bleibt mir das Glück im Unglück, daß mein Rückflug nach Berlin ausfiel und ich, beladen mit Leihgaben, Briefen, Fotos und Dokumenten, in der Paulus-Potter-Straat um Nachtasyl bat. Verköstigt mit mitternächtlichen Spiegeleiern saßen wir noch Stunden in Paulas Küche — es war der Beginn einer Freundschaft, die mein Leben bereichert hat«, schreibt die Historikerin im Vorwort des Buches über Paula Salomon-Lindberg, an dem beide Frauen in den letzten Jahren gearbeitet haben. Letzte Woche war Paula, inzwischen 94 Jahre alt, wieder einmal in Berlin. Mit goldener Umhängetasche links und dem Gehstock rechts, strahlend, witzig, charmant, sehr aufmerksam und sehr warmherzig empfing sie im Hotel Excelsior, vis-à-vis der Hochschule, an der 1926 ihr Berliner Leben begann.

Die tosende Hardenbergstraße über 60 Jahre später: Busladungen erschöpfter polnischer Touristen sitzen am Straßenrand, Horden von grün-weiß kostümierten Fußballverrückten ziehen grölend gen Zoo, und mittenmang stattet eine zarte, weißhaarige Künstlerin, älter als das Jahrhundert, der Stadt ihren vielleicht letzten Besuch ab.

Mit 20 Jahren kam die Tochter eines Rabbiners und Kantors aus der Nähe von Mannheim nach Berlin. Sie hatte bereits Mathematik und Schauspiel studiert und begann nun auf Drängen von Wilhelm Furtwängler an der Hochschule für Musik in Berlin eine Gesangsausbildung. Ihren Lebensunterhalt verdiente sie als Kinderfrau im Haus des Architekten Erich Mendelssohn und seiner Frau, in dem Musiker, Künstler und Wissenschaftler ein und aus gingen. Paul Hindemith und Albert Einstein, Siegfried Ochs und Kurt Singer, Albert Schweitzer, Käthe Kollwitz, Clara Zetkin, Theodor W. Adorno und Arturo Toscanini sind nur einige der berühmteren Freunde, Förderer und Kollegen jener Jahre. 1930 heiratete die inzwischen bekannte Altistin den Arzt und Professor an der Universitätsklinik, Albert Salomon. Die gemeinsame Wohnung in der Wielandstraße 15 in Charlottenburg wurde zu einem gesellschaftlichen Mittelpunkt des Berliner Kulturlebens.

1933 war von einem auf den anderen Tag alles vorbei. Paula erhielt von den Nationalsozialisten Auftrittsverbot, ihr Mann wurde aus der Klinik entlassen. Sie beteiligte sich am Aufbau des Jüdischen Kulturbundes, Albert leitete die chirurgische Abteilung des Jüdischen Krankenhauses. 1938 wurde Albert im KZ Sachsenhausen in »Schutzhaft« genommen, Paula im Gestapo-Hauptquartier stundenlang verhört. 1939 flohen beide mit gefälschten Papieren nach Amsterdam. 1943 wurden sie erneut verhaftet und ins Lager Westerbork deportiert. Ihnen gelang erneut die Flucht, und sie überlebten die Jahre bis zur Befreiung versteckt im Untergrund.

Seit dem Ende des Krieges lebt Paula Salomon-Lindberg in Amsterdam. Während ihr Mann das holländische Ärzte-Examen nachholte, verdiente sie mit Singen den Lebensunterhalt. Ein fremdes Land, eine fremde Sprache, aber »Johann Wolfgang von Goethe und Heinrich Heine sind doch vertont«. Ein Freund aus alten Zeiten, der inzwischen Leiter des »Mozarteums« in Salzburg geworden war, suchte sie über das Rote Kreuz und bot ihr eine Professur an. Da das Ehepaar soeben vorsichtig ein neues Leben in Holland begonnen hatte, kam eine nochmalige Umsiedlung nicht in Frage. So reiste Paula in den nächsten Jahrzehnten Sommer für Sommer nach Salzburg, um die Meisterkurse im Fach »Vom Sprechton zum Sington« zu leiten. Ihre letzte Klasse unterrichtete sie 1981, im Alter von 84 Jahren.

Seit dem Tod ihres Mannes 1976 lebt Paula allein. Ihr Haus ist trotzdem voller Leben, Kollegen suchen ihren Rat, und oft hat sie Besuch von Schülern und Kindern von Schülern, von alten und neuen Freunden aus aller Welt. Zu letzteren gehört auch Ulrich Roloff-Momin, von dem sie voller Rührung schwärmt. Ihn, der ihr noch als Präsident der HdK viel Aufmerksamkeit, Zuneigung und Zeit schenkte, schloß sie neben Christine Fischer-Defoy besonders in ihr Herz. Neben allem anderen haben auch »die politischen Gespräche mit ihm mir sehr geholfen, nach Berlin zurückzukehren«.

Roloff-Momin hatte auch die Idee, aus ihren Erinnerungen ein Buch zu machen. Der Titel: Paula Salomon-Lindberg — mein 'C'est la vie‘-Leben. Gespräche über ein langes Leben in einer bewegten Zeit, aufgezeichnet von Christine Fischer- Defoy. Paula sieht das irdische Treiben ein bißchen wie von einer leichten, duftigen Wolke aus Gelassenheit und Vergeßlichkeit herab. »Bald bin ich sowieso im Himmel«, sagte sie einfach so, als wäre das eine Fahrplanauskunft über die nächste Station ihrer Reise. Lächelte und verließ mich, um mit fragilem Gleichgewicht weiter durch Berlin zu spazieren, eine helle Gestalt im Sonnenlicht, 94 Jahre jung, ein zarter Engel mit goldener Tasche und Gehstock. Daniela Reinsch