pickpockets: Nach dem Abspann: Taschenbücher für Kinogeher
Scriptflicker und Meisterwerke
„Mit dem Ende des Kinos“, hat der notorische Kinogänger Peter Handke einmal notiert, „werden wir vertrieben worden sein aus einem Paradies.“ Angesichts der gegenwärtig herrschenden paradiesischen Zustände filmischen Überangebots könnte man sich eigentlich entspannt im Kinosessel zurücklehnen und Handkes Menetekel als rein rhetorische Untergangsvision ignorieren.
Folgt man jedoch den Überlegungen, die Willi Winkler in seinen Feuilletons zum „Kino“ anstellt, scheint das Ende doch bedenklich nah: „Die große Zeit des Kinos ist vorbei. Die kleinen Ladenmädchen gehen nicht mehr ins Kino, sondern ins Cinemaxx. Der hochauflösliche Bildschirm bringt Filme in Kinoqualität nach Hause, und weil sich der ältere Mensch lieber in der eigenen Inneneinrichtung festkuschelt, als abends noch mal loszuwackeln, um sich von einem Film nun schon wieder enttäuschen zu lassen, hält er an seiner alten Liebe blind fest. Die neuen Filme will er gar nicht mehr sehen.“ Winkler unterscheidet also zwischen Kino als sozialem Ort und Film als neutralem Medium. Zum Initiationserlebnis werden immer jene Erlebnisse von Kinokultur, in denen bestimmte Filme noch an eine Art Unschuld der Empfindung rühren; damit wären Kino und Film gewissermaßen Ort und Medium ewiger Pubertät.
In den Feuilletons Ernst Penzoldts, erschienen unter dem nichts sagenden Titel „Die Kunst, das Leben zu lieben“, findet sich ein Essay über „Schriftsteller und Filmsteller“, aus dem auch Rückschlüsse über die dem Film immanente „Kindlichkeit“ zu ziehen sind. Der Schriftsteller bediene sich der Bilder der Sprache, der Filmsteller vorzüglich der Sprache der Bilder. „Der Film bedient sich sozusagen lebender Hieroglyphen. Die Begriffe, die er verwendet, sind nicht, wie vielfach in der Sprache, abstrakt. Sie ‚bedeuten‘ nicht, sie ‚sind‘.“ Der Film erzeugt also, anders als schriftliche Erzählung, sinnliche Unmittelbarkeit.
Seine affektive Durchschlagskraft gewinnt der Film aber nicht nur durch seine Bilder, sondern sehr wesentlich auch durch seine Musik. Als Hitchcock erste Muster von „Psycho“ sah, war er enttäuscht. Erst die suggestive Musik Bernard Herrmanns machte diese Muster zum Meisterwerk. Mark Russells und James Youngs opulent illustriertes Buch über „Filmmusik“ macht am Beispiel bedeutender Filmkomponisten klar, wie und warum Musik dem Film erst jene emotionale Schärfentiefe verleiht, mit denen sich Filme in unser Gedächtnis eingraben.
Und dann natürlich die Schauspieler, die großen Stars, die zu Projektionsflächen der Wünsche ganzer Generationen werden. Die Inkarnation des weiblichen Hollywoodstars war Marilyn Monroe, über deren Leben und Tod inzwischen ganze Bibliotheken geschrieben wurden. Joyce Carol Oates biografischer Roman „Blond“ unternimmt den Versuch, die Monroe zu sehen, wie sie sich selbst gesehen haben könnte.
Kino und Hollywood sind zu Synonymen geworden, und zum Allgemeinplatz geworden ist auch, dass der Bodensatz aller Kinokultur und -kunst der blanke Kommerz ist. Held des Romans „Abspann“ von Steve Tesich ist ein so genannter Scriptflicker, dessen Aufgabe darin besteht, missglückte Drehbücher umzuschreiben. Das bedeutet insbesondere, dass Drehbücher trivialisiert und massenkompatibel gemacht werden müssen. Der Scriptflicker wird mit einem Familiendesaster erster Güte konfrontiert, und was ihm im System Hollywood stets gelang, geht im wirklichen Leben gründlich schief.
Wir lesen ja nicht zuletzt deshalb Romane und gehen ins Kino, weil uns im Leben irgend etwas misslingt oder fehlt.
KLAUS MODICK
Willi Winkler: „Kino“. dtv. 133 S., 8 €ĽErnst Penzoldt: „Die Kunst, das Leben zu lieben“. insel tb. 332 Seiten, 10 €ĽJoyce Carol Oates: „Blond“. Fischer TB. 911 Seiten. 12,90 €ĽSteve Tesich: „Abspann“. Fischer TB. 523 Seiten, 9,90 €ĽMark Russell/James Young: „Filmmusik“. rororo. 192 Seiten, 15,50 €
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