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Archiv-Artikel

peters‘ paradies Gewaltbereite Cineasten mischen die Wettbewerbsvorführungen der Berlinale auf

Die letzten Stunden in der Freiheit

Empörung im Berlinale-Palast. Während der Vorführung des niederländischen Wettbewerbbeitrags „Ja zuster, nee zuster“ lassen potenziell gewaltbereite Cineasten ihrem Unmut freien Lauf. Was haben sie nicht schon alles ertragen müssen: Erst italienische Kindheitserinnerungen („Ich habe keine Angst“), dann amerikanische Stanislaw-Lem-Interpretationen („Solaris“), anschließend französische Ganzkörperrasuren in Echtzeit („Son frère“), und nun auch die Holländer.

Möglicher Anlass mag dafür die Musicalform gewesen sein; vielleicht die fernab von internationalen Standards komponierte Musik; möglicherweise aber auch der grundsätzlich lustige Klang der holländischen Sprache, der gesungen einfach noch viel, viel lustiger klingt, und so dem durchaus ernsten Gegenstand unter Umständen nicht gerecht werden konnte. Inhaltlich ging es in dem Film jedenfalls um ein Pflegeheim für sympathische Sonderlinge, die in ihrer sympathischen Sonderlinghaftigkeit den Launen des strengen und gemeinen Pflegeheimeigentümers ausgesetzt waren, der das Heim zu einem luxuriösen Altersheim umzubauen gedachte, während singende Pflegerinnen es doch so schwungvoll betanzten – also ein großes Thema für großes Kino.

Die lautstarken Zwischenrufer, Türenschlager und auch Mit-den-Butterstullenpapier-Raschler mochten die gesellschaftskritische Ebene des Filmmusicals jedoch nicht erkennen und übersahen folglich auch die historische Relevanz dieses offenbar gewöhnungsbedürftigen Werks. Denn „Ja zuster, nee zuster“ basiert auf einer in den 60er-Jahren sehr beliebten Fernsehserie, die allerdings nur noch in der Erinnerung der Älteren existiert, weil die Originalbänder von einem umsichtigen Verantwortlichen des niederländischen Fernsehens im Zuge einer Sparmaßnahme mit was auch immer überspielt wurden.

Folglich galt es die so entstandene Lücke zu schließen. Und so wie es in „Ja zuster, nee zuster“ gewissermaßen um eine televisionäre Art von Vergangenheitsbewältigung geht, so handelt Spike Lees „25th Hour“ von einer persönlichen. Darin erlebt man Edward Norton als einen verurteilten Drogendealer, der seine letzten Stunden in Freiheit nutzt, um sich möglichst dramaturgielos seinem alten Leben zu stellen. Das ist nicht nur nicht einmal im Ansatz interessant, sondern überdies auch noch ärgerlich, weil Spike Lee nicht etwa deshalb ungefähr jede Szene quasi restlos mit geschwenkten, flatternden, frisch gewaschen in satten Farben erstrahlenden Flaggen dekoriert, weil es in New York nach dem so genannten 11. September so aussah, sondern um ein kitschiges Loblied auf New York und Amerika und seine Wehrhaftigkeit zu singen. Spike Lee, dem es bei genauerer Betrachtung bislang nur selten gelang, einen inhaltlich konsistenten Film abzuliefern, und daher als Regisseur allemal von der groben Überschätzung seiner Talente zehrt, ist mit „25th Hour“ mal wieder ein ganz besonders unausgegorenes Werk gelungen, dessen wirre, garantiert spannungsfreie Erzählweise wahrscheinlich dennoch wieder irgend jemanden dazu ermutigen wird, darin eine Geste des Uneinverstandenseins mit den Verhältnissen zu erkennen.

Was einem das sagen könnte? Dass nichts scheint, wie es ist? Dass aber genau diese Scheinhaftigkeitkeit ein unverzichtbarer Wesenszug des Kinos ist? Und dass deshalb „Ja zuster, nee zuster“, „25th Hour“ oder ein anderer Film der ganz besonders misslungenen Art vielleicht nicht nur besonders gelungen und wettbewerbstauglich, sondern auch bärenwürdig scheint? Schon am Wochenende weiß man mehr.

HARALD PETERS