personal der wahl (9): Warum Hans Eichel zuletzt doch kein Marxist geworden ist – Erinnerungen an eine hessische Jugend
Leberwurstbrote in der Aktentasche
Kassel, documenta, die letzte Straßenbahn ist weg, wir halten ein Taxi an, einen alten Benz. Drin sitzt ein bärtiger Grauhaariger, Lederjacke, Jeans, Selbstgedrehte im Mundwinkel. Er begrüßt uns euphorisch.
„Mensch, endlich wieder documenta“, sagt er, „mal ein paar Leute in diesem Nest, findet Ihr net auch? Guckt euch doch nur mal um“, sagt er, als wir in die Wilhelmshöher Allee einbiegen, „dieser Mief, diese Kleinbürger, immer noch wie in den Fünfzigern. Ich heiße übrigens Otto.“ – „Hallo Otto“, sagen wir. „Kassel“, erklärt er uns, „war Zonenrandgebiet, hierhin sind viele aus dem Osten vorm Mauerbau geflüchtet, meine Eltern übrigens auch. Die kamen aus Sachsen, waren Großbürger und fanden alle Hessen dumm, rückständig und erschreckend hässlich.“
„Da hinten bin ich übrigens mit Hans Eichel zur Schule gegangen“, sagt er. „Ehrlich, Eichel?“, fragen wir, und schon legt er los. „Ja, Hans Eichel. Wenn meine Eltern wüssten, welchen Weg der eingeschlagen hat! ‚Typisch Hesse‘, würden sie sagen, ‚wie soll man denn sparen, wenn man nichts erwirtschaftet?‘“ „Wusstet ihr, dass Eichel in Kassel mal Wahlkampf für Adenauer gemacht hat, während wir den ganzen Sommer zum Baden gegangen sind. Irre, ne? Nach dem Abi habe ich ihn aus den Augen verloren und erst im Studium wieder getroffen, so Mitte der Sechziger, in Marburg. Ich war da wegen Abendroth gelandet, Wolfgang Abendroth, ihr wisst schon, die einzige marxistische Professur für Politik in Deutschland nach Flechtheim in Berlin. Tja, irgendwie sah er damals schon aus wie heute“, erzählt Otto.
„Immer war er so blass, so schäbig, Mensch, ich weiß gar net wieso, schließlich war er Architektensohn, diese ärmlichen Klamotten und seine abgewetzte Aktentasche. Da hatte er meistens billige Butterbrote drin. Manchmal auch mit Leberwurst. Wahrscheinlich roch er deshalb so säuerlich aus dem Mund. Nie wusste man, ob er sich die Hand vor den Mund hielt, weil er Mundgeruch hatte oder weil er sich fürchtete. Meistens ist er sowieso nie bei unseren Happenings aufgetaucht, aber wenn er dann doch mal dabei war, machte er die Bremse und mahnte zur Vorsicht.“
„Einmal, da bin ich mit ihm zum Agitprop, ich glaube, nach Frankenberg. Ich weiß gar nicht mehr, ob es um Vietnam ging oder um die Notstandsgesetze. Jedenfalls hat er schon im Auto, als ich mit ihm diskutiert habe, andauernd ängstlich ‚au, au‘ gemacht. Aber dann ist gar keiner erschienen zu unserer Veranstaltung. Erst viel später habe ich erfahren, dass er erst unter dem Einfluss Abendroths Sozialdemokrat geworden sein soll. Ich kann das gar net glauben, bei uns hat er jedenfalls so getan, als ob er schon als Kind Plakate geklebt hätte für seine SPD.“
„Na ja, eigentlich ist es ja fast gemein, ein bisschen zu einfach, sich über Eichel lustig zu machen. Ich erinnere mich noch an dieses irre Plakat, das eine Zeit lang in linken Buchläden hing: ‚Mit einer Eichel an Hessens Spitze kann nichts mehr daneben gehen.‘ Nie hat ihn jemand so richtig ernst genommen, von wegen ‚Kassenwart aus Kassel‘ und ‚Chefbuchhalter‘, sein Dienstfahrrad, die klein karierten Sakkos. Dabei ist er doch ganz bestimmt ein Guter.“
„Letztes Jahr, habe ich gehört, hat er in Hessen eine Medaille bekommen, weil er in den Main gesprungen ist, um eine Selbstmörderin zu retten. In Kassel hat er geguckt, dass auch Frauen im Rathaus sind und sich früh mit den Grünen zusammengetan. Er war für die Ökosteuer, und zuletzt hat er sich sogar für die Schwulen eingesetzt.“
„Wenn ich es mir genau überlege, gibt es viel Schlimmere als den Eichel. Der Flügelschlag der Utopie hat ihn sicher nie berührt. Aber so konnte er wenigstens keine Ideale verraten. Und schließlich: Vielleicht ist Sparen ja auch manchmal gar net so schlecht.“
„Mann, Leute, schaut mich an“, sagt Otto lachend, als wir angekommen sind. „Wer weiß, was aus mir hätte werden können, wenn ich auch mal ein bisschen gespart hätte!“
SUSANNE MESSMER
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