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ortstermin: de maizière liest, demonstranten singenDer Mann der deutschen Leitkultur

Zunächst hielt sich die Polizei zurück, dann griff sie doch noch zu: Protest in Göttingen Foto: Reimar Paul

Auf dem Göttinger Marktplatz ist es am frühen Dienstagabend richtig voll. Späte Einkäufer hasten in die noch offenen Geschäfte, Weihnachtsmarkt-Besucher stehen Schlange für Glühwein oder eine Krakauer, rund um das Alte Rathaus ist massenhaft Polizei postiert. Und schräg gegenüber, wo die Rote Straße auf den Platz mündet, entladen junge Leute einen Lastwagen.

Etwas später steht dort eine Bühne mit Zeltdach. Transparente werden aufgespannt. „Krieg beginnt hier“, ist auf einem zu lesen, „Hoch die Internationale Solidarität“, steht auf einem anderen. Über den Köpfen vorbeihastender Passanten wehen ein paar Antifa-Fahnen. Ein Chor stimmt das Lied „Die Arbeiterin von Wien“ an. Text und Noten sind an die rund 150 Umstehenden verteilt worden. Einige fallen in den Gesang ein, erst zaghaft, dann immer vernehmbarer: „Wir sind die Zukunft und wir sind die Tat.“

Anlass für die Aktion ist der zeitgleiche Besuch des CDU-Politikers Thomas de Maizière in der Stadt. Er will eine Stunde später im Alten Rathaus auf der anderen Seite des Platzes sein Buch „Regieren“ vorstellen. Eigentlich hatte er das schon am 21. Oktober vor. Doch damals blockierten rund 100 linke Demonstranten die Aufgänge zu dem Gebäude. Sie wollten so auf den türkischen Krieg gegen die Kurden in Syrien und eine Mitverantwortung de Maizières für deutsche Waffenlieferungen an die Türkei aufmerksam machen.

Nun ist der Protest deutlich kreativer. Aktivisten des Göttinger „Bündnisses gegen Abschiebungen“ tragen einen Pappsarg mit der Aufschrift „Menschlichkeit“ symbolisch zu Grabe.

Unter dem Motto „Freie Radikale reden radikal frei“ lesen Frauen und Männer Texte kurdischer Autoren vor. Eine Passage etwa aus der Autobiografie der 2013 ermordeten PKK-Mitgründerin Sakine Cansız, eine andere aus dem „Plädoyer für den freien Menschen“ des inhaftierten PKK-Chefs Abdullah Öcalan. Die Bücher sind in einem kurdischen Verlag erschienen, den das Innenministerium Anfang 2019 mit Verweis auf angebliche PKK-Nähe verboten hat.

Ein Vertreter des Göttinger Bündnisses gegen Abschiebungen wendet sich direkt an de Maizière, der in diesem Moment von Polizisten ins Alte Rathaus gegenüber geleitet wird. Er habe als Minister unter anderem den Flüchtlingsdeal mit der Türkei eingefädelt, „durch den Millionen von Menschen in der Türkei, aber auch auf den griechischen Inseln festgesetzt werden und der das Sterben im Mittelmeer weiter vorantreibt“.

„Wir erheben auch Widerspruch gegen Ihre tödliche Lüge, in Afghanistan gäbe es sichere Gebiete, und also könne dorthin abgeschoben werden“, sagt der Redner weiter. Zudem habe de Maizièredie Debatte um eine „deutsche Leitkultur“ mit angestoßen. Dadurch sei der AfD der Weg „noch in das letzte Landesparlament“ geebnet worden.

Zwischendurch werden immer wieder Lieder angestimmt, „Bella Ciao“ natürlich, und die chilenische Widerstandshymne „El Pueblo Unido“. Nach knapp zwei Stunden Programm, als viele Zuhörer schon gegangen und die ersten Weihnachtsmarktstände geschlossen sind, greift die Polizei zu. Die Beamten, die sich bis dahin zurückgehalten haben, nehmen zwei Personen in Gewahrsam und setzen sie für eine knappe Stunde fest. Die Gründe für den Einsatz bleiben zunächst im Dunkeln. Reimar Paul

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