orte des wissens: Von der Austernfischerei zur Forschung
In Deutschlands nördlichster Forschungstation in List auf Sylt dreht sich alles um das Wattenmeer
Näher dran am Gegenstand des Wissens kann man nicht sein. Gerade mal 50 Meter sind es vom Wattenmeer bis zum langgezogenen Gebäude der Wattenmeerstation Sylt des Alfred-Wegener-Instituts (AWI)/Helmholtz-Zentrum für Polar- und Meeresforschung. Ganz oben auf der Insel, an der Lister Hafenstraße, liegt Deutschlands nördlichste Forschungseinrichtung, direkt neben dem „Erlebniszentrum Naturgewalten Sylt“, mit dem das Institut gemeinsam den Ausstellungsteil „Klima, Wetter, Klimaforschung“ bespielt. Dort kann man unter anderem das Klimageschehen auf der Erde, etwa die Auswirkungen auf den Küstenverlauf, aus der Perspektive von Astronaut:innen erleben.
Nebenan forschen die AWI-Wissenschaftler:innen an genau diesen Problemen: Gegenstand der „Ökologie der Küsten“ als „Erd- und Umweltforschung“ ist die Untersuchung von Struktur und Funktion von Küstenökosystemen in Abhängigkeit von Änderungen der Umweltbedingungen.
Konkret sind es Fragen wie diese: Wie wirken sich Veränderungen der Umweltbedingungen in der Nordsee auf die Küsten-Ökosysteme aus? Wie verändert sich die Artenzusammensetzung und wie beeinflusst dies die Nahrungskette im Wattenmeer? Welche Konsequenzen und evolutiven Anpassungsstrategien lassen sich davon ableiten? Und wie verändern sich die Lebensräume im Küstenbereich langfristig?
Rund 400 Studierende besuchen die Wattenmeerstation jedes Jahr, und Gastforscher:innen können dort Feldarbeiten durchführen und Versuche in Laboren für chemische Nährstoffanalytik, für die Analytik von Plankton und Benthos, also im Boden lebender Organismen, für die Molekular- und Zellbiologie sowie geophysikalische und sedimentologische Untersuchungen. Derzeit sind Forscher:innen der Uni Heidelberg auf der Insel und untersuchen die Methan-Emissionen aus der Nordsee. Und für Forschung auf dem Meer steht das Forschungsschiff „Mya I“ zur Verfügung.
Zu den Auswirkungen von Veränderungen von Umweltbedingungen wird in List schon lange geforscht. Denn Ausgangspunkt für die Gründung des „Zweiglaboratoriums für Austernforschung und zur Erforschung des Wattenmeeres“ der Biologischen Anstalt Helgoland in List im Jahr 1924 waren die schon Mitte des 19. Jahrhunderts gesunkenen Austernerträge. Der Kieler Zoologe Karl August Möbius wurde 1869 beauftragt zu untersuchen, warum die Bestände zurückgingen, um ein nachhaltiges Befischungskonzept zu entwickeln. 1877 warnte er bereits vor den Auswirkungen der Überfischung. Am Beispiel der Austernbänke führte Möbius auch einen neuen Begriff ein: Biozönose für die Lebensgemeinschaft von Pflanzen und Tieren in einem Biotop.
Deutschlands einzige Austernzucht liegt heute übrigens auch vor Sylt, zwischen List und Kampen. Die allerdings kämpft aktuell mit dem Auslaufen von Lizenzen und dem Widerstand von Umweltverbänden wie der Schutzstation Wattenmeer. Denn die dort als „Sylt Royal“ großgezogenen Austern werden aus Irland importiert, es besteht die Gefahr, dass invasive Arten eingeschleppt werden. Auch Zahlen des AWI stützen die These.
Am AWI indessen arbeitet man im Rahmen der Projekte „Restore“ und „Proceed“ an Konzepten, die heimische Austernart „Ostrea edulis“, die funktionell ausgestorben ist, also ihre Rolle im Ökosystem nicht mehr erfüllen kann, wieder anzusiedeln, denn eine eigenständige Wiederansiedlung wird durch intensive Bodenschleppnetzfischerei verhindert.
Ökologisch wäre eine gelungene Wiederansiedlung für das Ökosystem Nordsee ein Segen: Austernriffe bieten Nahrungs-, Schutz- und Rückzugsmöglichkeiten und dienen vielen Fischarten als Kinderstube. Und gut für die Wasserqualität wäre es: Bis zu 240 Liter Meerwasser kann eine einzelne Auster pro Tag filtern. Robert Matthies
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