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normalzeitHELMUT HÖGE über Stadt-Musik

KLANGGESCHEHEN IN MITTE UND IM WEDDING

Die Bourgeoisie veredelt sich am liebsten mit Musik. Das tut am wenigsten weh, höchstens dass sich mal ein falscher Ton einschleicht, und man kann dabei – in großer Garderobe und festlichem Rahmen – von neuen Märkten und Produkten träumen, während man sich mit dem Dirigenten identifiziert, während das Orchester Maschinen und Mitarbeiter mimt. Im Mai 2000 wurde dazu – am Gendarmenmarkt – „Beethoven komplett“ geboten.

Der Dirigent – Barenboim – lockte die Massen auf den Plakaten als eine gelungene Mischung aus Berthold Beitz und Schostakowitsch: Zwei Meter groß, stämmig wie ein Schrank, weltmännisch-frauenheldisch lächelnd. Und er drohte, die letzten „deutschen Qualitäten“ aus der (Ostberliner) Staatskapelle herauszulocken.

Eigentlich darf Beethoven in Gesamtdeutschland gar nicht gespielt werden: Seine sämtlichen Kompositionen entstanden in einer Zeit, da eine Revolution die andere ablöste (nur nicht in Deutschland), und die Leidenschaften – in puncto Geld, Moral, Kriege und das große Ganze – „hoch wogten“ (Tocqueville). In Deutschland siegte dagegen die Gegenrevolution mit kalt-rassiger Sachlichkeit.

Noch bei Karajan triumphierte das präzise Zusammenspiel – im Sinne eines Reiß-dich-zusammen. „Immer wenn ich Beethoven höre, will ich Polen erobern,“ lässt Pynchon 1945 in einer Tiergarten-Bretterbude einen seiner kiffenden Beethoven-Experten nachtrauern.

Als nun Barenboim, angekündigt wie ein Superstar, unter Applaus vor die Musiker trat, ging ein Raunen durch die Reihen: „Das kann doch nicht wahr sein“ – so ein kleines, schmächtiges Männchen mit kurzen Ärmchen und lächerlicher Halbglatze (deswegen hatte man also seinen Kopf auf dem Plakatfoto abgeschnitten!).

Am Samstag gab der Meister die erste und die dritte Symphonie sowie das Klavierkonzert in c-moll zum Besten. Schon an den Spiel-Tagen zuvor hatte die hauptstädtische Kritik das „klirrend kalte“, „stickige“, „hilflose“ seiner Interpretationen, insbesondere am Klavier, getadelt. Am Samstag nun glitt das Konzert vollends ab in Militärmusik. „War das deutsch genug?“ hätte er am Ende keck fragen können.

Wir bedankten uns artig für diesen misslungenen Nachmittag (die Karten waren geschenkt) – und trollten uns zum Rudern auf den Großen See im Tiergarten, wo es frischgeschlüpfte Enten und Blässhühner en masse zu beobachten gab.

Abends dann stand ein eher proletarisches Klanggeschehen auf dem Programm – und zwar im Wedding an der halbfertigen Behmbrücke. Dort singt im Mai allnächtlich die berühmte Nachtigall „Fritz“ – vor versammelten Liebespaaren. Und das ist schön.

Sicher, die Nachtigallen singen in Russland schöner, so wie dort auch jedes Kurorchester einen besseren Beethoven gibt. Jewgenia Ginsburg, die Jahrzehnte im GULAG in Kolyma verbrachte, zählt deswegen auch zu den schrecklichsten Verbrechen der Bolschewiki, dass sie die berühmte Nachtigallenschule von Kasan vernichteten.

Ein anderes B-Verbrechen war die Lüge, dass es nirgendwo auf der Welt so viele Park- und Grünanlagen gebe wie in der Sowjetunion.

Noch heute wundern sich deswegen viele Russen, wenn sie nach Berlin kommen, dass es hier viel grüner ist als z. B. in Moskau. Und ab Mai wimmelt es überall in den großen Bäumen geradezu von Nachtigallen.

Im Botanischen Garten gibt es einen regelrechten Sängerwettstreit. Die Nachtigall sucht die Nähe des Menschen.

Da sie aber ihren Gesang lernen muss, brauchen die jungen Männchen die alten geübten Sänger als Vorbild. Letztere feilen auch im hohen Alter noch an ihrem Gesang. Der graubraune Vogel ist in der Sahelzone beheimatet. Hier macht er – ähnlich wie Barenboim – in den kurzen Sommermonaten nur seine Muggen.

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