normalzeit: HELMUT HÖGE über legt:
Wie das kommt
Als ich hier einmal kurz christlich argumentierte, lächelte Mathias Greffrath anschließend so satanisch. Dabei stehen uns jetzt wieder wahre Glaubenskriege ins Landhaus. Wie ja auch bereits die marxistische Arbeiterbewegung in vielen Ländern aus dissidenten Sekten entstanden war. Und umgekehrt zum Beispiel die militanten Hussiten über die Böhmischen Brüder auf dem geraden pietistischen Weg zu den pazifistischen „Brüdergemeinen“ fanden.
Letztere haben ihr Zentrum noch heute im sächsischen Herrenhut. Zu DDR-Zeiten durften die Gemeindemitglieder kein Abitur machen. Sie waren also wieder eine dissidente Sekte – diesmal unter einer aus dem illegalen Arbeiterkampf hervorgegangenen Obrigkeit.
Der christliche Glaube geht ebenso seltsame Wege wie der Kommunismus und umgekehrt: Rein in die Katakomben, raus zum 1. Mai und zur Staatsreligion – und wieder rein in die Katakomben! „Mama, über uns wird ’ne Kellerwohnung frei!“ (Wolfgang Neuss)
Das schlichte Grab des rumänischen Parteiführers Ceauçescu scheut die Wahrheit nicht mehr: ein Kreuz mit einem roten Stern draufgenagelt. In ihrer DDR-Dissidenz haben die Herrnhuter Brüdergemeinen, voran Bischof Gil, den wahren Sozialismus wie einen Schatz gehütet.
Man könnte hierbei auch von einer Multiplizenschaft sprechen – im Sinne von: eine Seelenverwandtschaft anstrebend, sich gemeinschaftlich bemühen. Wenn der Sohn von Bischof Gil etwa mit seiner Mutter heute über den Sinn und Unsinn des Abiturs diskutiert, dann ist das ein ferner, aber feiner Nachklang jener Debatte, die nach ihrer Haftentlassung Schalamow und Solschenizyn über den Gulag führten, wobei Ersterer darauf bestand, dass die Arbeitslager in keinem Fall zu etwas Gutem führen. Er urteilte mithin so ähnlich wie Primo Levi über Auschwitz: „Nur die Schlimmsten haben überlebt“: die Anpassler und Kompromissbereiten.
Das diese Typen begünstigende „System“ hat der russisch-orthodoxe Priester Pawel Florensky 1917 mit der „Zentralperspektive“ identifiziert, die nach ihm „eine Maschine zur Vernichtung der Wirklichkeit“ ist. Leo Trotzki holte den vielseitigen Denker dennoch in die Elektrifizierungskommission. Während der Moskauer Prozesse wurde Florensky im Gulag erschossen.
Wir erleben gerade eine Renaissance seines Denkens. Auf Deutsch hat das Ehepaar Mierau gerade sein Gesamtwerk herausgebenen. Florensky ist ein „Privatpartisan“, im Gegensatz zur international missionierenden Brüdergemeine, die hier in Berlin-Neukölln und Mitte domiziliert ist.
Aber auch im Gegensatz zur Jüdischen Gemeinde, über die man sich in der Presse inzwischen angewöhnt hat, so ausführlich zu berichten wie früher über die Arbeiterbewegung: Schon die kleinste Vorstandsveränderung löst bei den Kommentatoren eine Sinn-Flut aus, die an die Hochzeiten der „Kreml-Astrologie“ anknüpft – im Lokalteil.
Dieser Medien-Hype, in Verbindung mit der wachsenden Zahl von – vergeblichen – Beitrittswünschen junger exchristlicher oder postkommunistischer Menschen hat zwar nur wenig mit dem jüdischen Glauben zu tun, resultiert aber aus dem fortdauernden Festhalten der christlichen Kirchen und Parteien an der „Zentralperspektive“ und der daraus entstandenen Zersetzung ihrer Gemeinden.
„Verliebe dich nicht in die Macht,“ riet Michel Foucault in seinen zehn Thesen für ein nichtfaschistisches Leben. Den jüdischen Gemeinden ließ man lange Zeit gar keine Chance dazu, deswegen stehen sie jetzt so gut da, deswegen aber jetzt dort auch die Eiertänze mit dem Bolschewismus, wobei Stalin mitunter bereits als der größte Judenfresser aufscheint. Im Kapitalorgan FAZ ist das schon lange Gemeinplatz. Aber selbst diese Ausschläge gereichen der jüdischen Gemeinde noch zur Ehre, insofern dort wirklich etwas geschieht – wenn man der Presse glauben darf.
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