normalzeit: HELMUT HÖGE über Volxmusik
Wo und wie sie abgeht
Seitdem die Popmusik völlig legal ist, habe ich das Interesse an ihr verloren. Seitdem sie aus allen Kanälen und in jedem Laden schallt, ist sie mir sogar geradezu verhasst geworden. Seit der Wende, die einen unerwarteten Umschwung in der allgemeinen Aufmerksamkeit mit sich brachte – von West nach Ost –, registriere ich aus dieser Richtung jedoch immer wieder überraschendes Liedgut, das auch mich nicht kalt lässt.
In den U-Bahnhöfen haben die Russen z. B. schon alle anderen Musiker verdrängt – sie hatten es sich aber auch lange Zeit zu einfach gemacht und würden jetzt nur noch lächerlich wirken. Manchmal, wenn ich beim Umsteigen in Stadtmitte eine dieser einsamen SymphonikerInnen aus Sibirien dort höre, kommt mir bereits der Verdacht, dass die Musik doch die Menschen veredeln kann – und ferner, dass diese armen MusikerInnen sich für uns regelrecht opfern, indem sie tagsaus, tagein stumpfsinnig üben, bzw. in ihrem einheimischen Konservatorium geübt haben. Und jetzt nichts anderes können als Musikmachen. Dabei geht es um klassische Musik.
Der Ost-Pop trat hier während der Wende zuerst mit dem DJ Westbam in Erscheinung – und nannte sich Eastbam: er kam aus Riga, wo auch Westbams zweiter Manager Indulis Bilzenz herstammt. Inzwischen wimmelt es hier geradezu von Bands aus der Ex-Sowjetunion, der Mongolei, Tuwa, Jugoslawien etc. Eine große Plattenfirma vertreibt demnächst sogar Russen-Pop, und neben dem Kaffee Burger in der Torstraße eröffnete bereits ein russischer Plattenladen. Daneben gibt es eine Mongolendisko, eine Russendisko, Ipeks schwul-lesbische Türkendisko im S.O. 36, zwei Russlanddeutschendiskos und Wladimir Kaminers selbst in westdeutschen Theatern und jüdischen Gemeinden schon angesagte Russendisko, die daneben nach wie vor einmal im Monat im Kaffee Burger stattfindet – und damit den Laden quasi in die Gewinnzone geschoben hat.
Nun erreichte mich auch noch eine zünftige E-Mail, in der die erste „Battle of the DJs“ – womit ausschließlich osteuropäische gemeint sind – annonciert wird: heute, 22 Uhr, Zigarettenfabrik Pankow in der Hadlichstraße 44. Die Veranstalter versprechen dazu noch „jede Menge partisanische Anspielungen“ – oder waren es sogar „Einlagen“? Egal, die DJs kommen jedenfalls aus Ungarn, Jugoslawien und Russland und heißen: Yuri Gruzhy, Ermin Behric, „Ero“, Wladimir Kaminer, Rüdiger Rossig, Simon Wahorn und weitere. Türsteher bzw. Einlasser ist wie üblich der körpergebildete Georgier, der eigentlich Philosophie studiert.
Zu dieser erst von Paris bzw. New York aus nach Osten und jetzt von Moskau aus nach Westen rollenden „Welle“ (Leo Tolstoi) gehört auch das Phänomen, dass immer mehr ostdeutsche Musiker sich in Russen verwandeln (als der große Bruder noch in Saft und Kraft stand, haben sie sich geweigert). Da ist z. B. der russische Mädchenchor aus Potsdam. Dann das Akkordeon-Orchester Grena Cosina. Susanne, die russische Zigeunerlieder singt. Das Orchester Bakula, angeblich aus Odessa. Ein Donkosakenchor aus Brandenburg (übrigens stammte auch schon Ivan Rebroff aus Spandau). Der Balalaikamann Olaf. Die sächsische Volxmusikgruppe „Apparatschik – von der Insel Machorka in Tabakistan“ usw. Es begann mit Maike Nowak aus Leipzig, die als Adriana Lubowa nicht nur selbst komponierte Lieder auf Russisch und Russischdeutsch singt, sondern auch nur noch gebrochen deutsch spricht und zudem 850 Kilometer von Moskau entfernt in einem völlig abseits gelegenen kleinen russischen Dorf lebt, inmitten alter Frauen, denen sie manchmal selbst vertonte Gedichte von Anna Achmatowa und Marina Zwetajewa vorträgt.
40.000 mal Danke!
40.000 Menschen beteiligen sich bei taz zahl ich – weil unabhängiger, kritischer Journalismus in diesen Zeiten gebraucht wird. Weil es die taz braucht. Dafür möchten wir uns herzlich bedanken! Ihre Solidarität sorgt dafür, dass taz.de für alle frei zugänglich bleibt. Denn wir verstehen Journalismus nicht nur als Ware, sondern als öffentliches Gut. Was uns besonders macht? Sie, unsere Leser*innen. Sie wissen: Zahlen muss niemand, aber guter Journalismus hat seinen Preis. Und immer mehr machen mit und entscheiden sich für eine freiwillige Unterstützung der taz! Dieser Schub trägt uns gemeinsam in die Zukunft. Wir suchen auch weiterhin Unterstützung: suchen wir auch weiterhin Ihre Unterstützung. Setzen auch Sie jetzt ein Zeichen für kritischen Journalismus – schon mit 5 Euro im Monat! Jetzt unterstützen