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nebensachen aus mexiko-stadtFRÜHLINGSERWACHEN IN TENOCHTITLAN

Monströse Aztekenmetropole als Nabel der Welt

Zugegeben, mitunter geht es hier zu Lande zu wie in einem B-Picture. Erst neulich begrüßte einen bei der morgendlichen Zeitungslektüre die Nahaufnahme eines toten Mannes, der aus Mund und Ohren blutete und vor dem Lenkrad seines Autos zusammengesunken saß. Dabei handelt es sich nicht um irgendeinen Gangster, wird im Begleittext erläutert, sondern um den Sicherheitsbeauftragten der Bundesstaatsanwaltschaft, der offenbar ein paar hunderttausend Dollar beiseite geschafft hatte und sich aus Angst vor der Blamage nun erschossen habe. In einer Reihe von ominösen Abschiedsbriefen („Es gibt da Geld, das schwer zu erklären ist“) entschuldigt sich der gute Mann bei aller Welt und deklariert seinen Selbstmord als „Akt der Liebe“.

Liebesakte aller Arten sind hingegen in Gefilden des Landes eher geächtet. So wurde ausgerechnet auf der schwülen Karibikhalbinsel Yucatán kürzlich allen Ernstes eine Gesetzesinitiative zur strafrechtlichen Verfolgung von Oralsex diskutiert. In manchen Bundesstaaten ist Angestellten das Tragen von Miniröcken per Dekret untersagt, immer mal wieder werden Stelltafeln mit BH-Reklame abmontiert, und im Namen der Sittlichkeit soll nun auch dem einträglichen Auf-den-Tischen-Tanzen barbusiger Damen der Garaus gemacht werden. „Strikt verboten ist die Darbietung von Spektakeln, in denen nackte oder halbnackte Personen rhythmische Bewegungen des Körpers mit erotischen oder sexuellen Zielen vollführen“, heißt es in der entsprechenden Verordnung.

Dennoch, der Frühling bahnt sich unaufhaltsam seine Wege. Ein kecker Kolibri fliegt mir immer häufiger vor die Scheibe, um ein wenig am Orangenbäumchen vor meinem Fenster zu nippen. Inmitten des winterkahlen Gestrüpps macht es plötzlich „pling“ und leuchtend-lila Jacarandabäume stehen über Nacht in voller Blüte, ein echter Lichtblick in der dunstig-zerklüfteten Stadtlandschaft. Überhaupt gibt es allerorten recht hübsche Ereignisse zu bestaunen: beispielsweise den „Internationalen Mariachi-Kongress“, der letzten Sonntag auf dem Zócalo, dem riesenhaften Platz im Herzen der Hauptstadt, feierlich begangen wurde. Die gedrungenen Männer in ihren knappen Bolero-Jäckchen, der silberbeschlagenen Naht am Hosenbein und dem unvermeidlichen Sombrero, sind vermutlich der leibhaftige Inbegriff mexikanischer Wucht und Wehmut – und offenbar ein beliebter Exportartikel. An die 1.000 Mariachis aus aller Welt – darunter auch welche aus Holland und Japan – sollen es gewesen sein, die dem Moloch mit Geigen und Trompeten ein dröhnendes Geburtstagsständchen darboten. Denn zelebriert wurden voller Inbrunst die 675 Jahre seit Gründung der Aztekenmetropole Tenochtitlan – ganz so, als wäre diese zwischenzeitlich nicht von den Invasoren dem Erdboden gleichgemacht worden.

Im Abhalten von skurrilen „internationalen“ Spektakeln sind die Mexikaner ohnehin große Klasse: Eine Woche später soll auf dem selben Platz – erstmals und unter Federführung des guten alten Goethe-Instituts – ein deutsch-mexikanischer Rave stattfinden.

Derlei Wunderlichkeiten ist es wohl zu verdanken, dass die Bewohner des monströsen Ex-Tenochtitlan noch immer nicht das Weite gesucht haben. Nach wie vor halten sie ihre Stadt, wie einst die alten Azteken, für den Nabel der Welt. Und, ich gebe es gerne zu, längst nicht nur die Mexikaner. ANNE HUFFSCHMID

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