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nebensachen aus kabulSubjektives Sicherheitsempfinden

Nachts gehört Kabul den Hunden

Nachts gehört Kabul den Hunden. Nach halb neun sind die Straßen der afghanischen Hauptstadt menschenleer. Daran hat sich nichts geändert, seit die nächtliche Ausgangssperre aufgehoben wurde. In den Straßen gibt es nur wenige Laternen, aus den Häusern dringt kaum Licht und nur selten huscht ein Taxi durch die Dunkelheit – schnell nach Hause, bevor einem die Finsternis gänzlich den Schneid stiehlt.

Mit Anschlägen oder Raubüberfällen hat das jedoch nichts zu tun. Die Wahrscheinlichkeit für Afghanis, davon getroffen zu werden, ist so hoch wie für US-Amerikaner in Kansas City. Sondern damit, was ein Offizier der Internationalen Sicherheitstruppe Isaf „subjektives Sicherheitsempfinden“ nennt.

Nach gut zwanzig Jahren Bürgerkrieg sind die Afghanis traumatisiert, und bevor sie wieder beginnen werden, ein normales Leben zu führen, wird noch eine Weile vergehen. Deshalb gehört Kabul nachts den Hunden. Wenn man am Tag die räudigen Tiere zusammengerollt dösen sieht, würde man nicht denken, dass sie die Nacht regieren. Aber am späten Nachmittag fangen sie an, sich überall zusammenzurotten, wo es etwas zu holen gibt. Und ab elf Uhr nachts stimmen sie ihre schauerlich-schönen Konzerte an. Ein Hund wird durch ein ungewöhnliches Geräusch aufgeschreckt und fängt an zu bellen, dann antworten ihm die anderen im Chor, bis sich das Konzert der Hunde über das Viertel und die nächsten Hügel hinaus bis zum Horizont ausgebreitet hat. Das kann zwanzig Minuten gehen. Bis die Stadt wieder in gespenstische Stille verfällt.

„Keiner versteht die Tiere“, sagt eine Kabulerin, die bei einer westlichen Stiftung als Sekretärin angestellt ist. „Keiner weiß also, was sie sich nachts erzählen.“ Wie in einer orientalischen Stadt bis ins 19. Jahrhundert üblich, sind die halbwilden Hunde zugleich Wachleute, Abfallbeseitiger und Schädlinge in einem, und über die Jahre des Bürgerkrieges haben sie immer wieder gut von den Opfern der Kämpfe gelebt. Inzwischen sind jedoch vor allem eines geworden: eine Bedrohung für die Menschen. Denn die „verrückten Hunde“, wie sie Dr. Mohamed Naim nennt, fallen immer wieder die Menschen an. Im vergangenen Jahr wurden mehr als 1.000 Menschen in Kabul von tollwütigen Hunden gebissen, sagt der Arzt, der im Gesundheitsministerium für ansteckende Krankheiten zuständig ist. Und wie auf Bestellung kommt ein Vater mit seinem 12-jährigen Sohn im Büro vorbei, der auf dem Weg Schulweg von einem wilden Hund angefallen worden ist, und noch einer mit seiner Tochter und ein weiterer mit seinem Sohn.

Bezahlt von westlichen Hilfsorganisationen, hat das Gesundheitsministerium deshalb in den ersten vier Monaten des Jahres mit Strychnin vergiftetes Fleisch ausgelegt. Mehr als 2.500 Hunde wurden getötet. Im November begann das Ministerium mit einer neuen Kampagne. Und wird solange weitermachen, sagt Dr. Naim, bis die Kabuler die Nacht wieder von den Hunden zurückerobert haben. PETER BÖHM

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