nebensachen aus brüssel: Der gemeinsame genetische Code aller Belgier
Gernegroß in der Außenpolitik
Die Leidenschaft für außenpolitisches Handeln ist fest im genetischen Code der wallonischen Belgier verankert. Gemeinhin wird der kollektive Wesenszug damit erklärt, dass der Neid auf den außenpolitisch bedeutsamen großen Bruder Frankreich und die Erinnerung an die eigene koloniale Vergangenheit den Drang auf die weltpolitische Bühne wach halte.
Seit Flandern Anfang des Jahres unabhängig von den ungeliebten wallonischen Landsleuten und ohne Zutun der Föderalregierung den Kulturaustausch mit Israel und den Palästinensergebieten abbrach, ist klar: Es gibt ihn doch: den gemeinsamen genetischen Code aller Belgier. Die Raubzüge im Kongo haben schließlich auch nicht die Wallonen allein auf dem Gewissen. Geändert hat sich nur die Ware: Leopold II. ging es um Kautschuk, dem belgischen Staatsmann von heute geht es um Moral.
Die vergangenen Wochen allerdings haben den Thron des selbst ernannten Moralfürsten Außenminister Louis Michel ins Wanken gebracht. Als Belgien letztes Jahr auf der Grundlage eines weltweit einmaligen Gesetzes vier ruandische Staatsbürger, die ihre Verbrechen nicht auf belgischem Boden begangen hatten, zu langjährigen Freiheitsstrafen verurteile, wurden völkerrechtliche Bedenken nur verhalten geäußert. Dass Belgien trotz seiner hervorragenden Kontakte aus der Kolonialzeit dem Massenmord Anfang 1994 tatenlos zugesehen hatte, war den meisten Prozessbeobachtern nur eine Randnotiz wert.
Exdiktator Pinochet, Palästinenserführer Arafat, der israelische Premier Scharon – inzwischen liest sich die Liste der in Belgien wegen Verbrechen gegen die Menschlichkeit Angeklagten wie ein Who is Who der umstrittensten Politiker. Aufmerksamkeit war dem kleinen Land damit stets sicher. Als aber Anfang des Monats ein Untersuchungsausschuss des belgischen Parlaments zu dem Schluss kam, die Regierung habe 1961 wesentliche Mitverantwortung an der Ermordung des ersten kongolesischen Ministerpräsidenten Patrice Lumumba getragen, wurde die Stimmung nüchterner. Warum spielt Belgien anderswo den Moralapostel und macht gleichzeitig belgischen Hintermännern im Lumumba-Komplott nicht den Prozess? Letzte Woche entschied schließlich der internationale Gerichtshof in Den Haag, Belgien habe nicht das Recht, den ehemaligen kongolesischen Außenminister wegen des Genozids an den Tutsi mit internationalem Haftbefehl suchen zu lassen. Daraufhin kündigte Louis Michel kleinlaut an, das kritisierte Gesetz überarbeiten zu lassen.
Ein Trost allerdings bleibt dem wallonischen Gernegroß, der nun in der föderalen Außenpolitik leisere Töne anschlagen muss: Die Flamen haben bei ihren Versuchen, eine von der Föderalregierung unabhängige Außenpolitik auf die Beine zu stellen, auch nicht mehr Glück. Ende Januar wurde Flanderns Ministerpräsident Patrick Dewael in Israel zur unerwünschten Person erklärt.
Für die diplomatische Ohrfeige führte die israelische Regierung ein ganzes Bündel von Gründen an. Für die meisten davon ist Dewael gar nicht zuständig. Aus israelischer Perspektive macht es eben wenig Unterschied, dass die Anklage gegen Ariel Scharon auf ein nationales belgisches Gesetz zurückgeht und der Überfall gegen den Oberrabbiner von Brüssel von arabischen Jugendlichen verübt wurde. „Alle in einen Sack, Knüppel drauf – triffste immer den Richtigen“ scheint das Motto israelischer Außenpolitik zu sein. Und zumindest das haben Israelis und Belgier dann doch gemeinsam.
DANIELA WEINGÄRTNER
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