murat kurnaz hat das recht auf rückkehr nach deutschland : Es gilt die Unschuldsvermutung
Der rechtsstaatliche Grundsatz, dass niemand seine Unschuld beweisen muss, sondern für jede Strafe eine individuelle Schuld zweifelsfrei nachgewiesen sein muss, wird von einem großen Teil der Öffentlichkeit für richtig gehalten – nicht nur, aber auch deshalb, weil die Furcht weit verbreitet ist, selbst einmal unschuldig ins Visier von Polizei und Staatsanwaltschaft zu geraten. Das gilt jedenfalls für die meisten Vergehen und Verbrechen, von der Geschwindigkeitsübertretung bis zum Mord. Als Gesinnungstäter der Beteiligung an einem terroristischen Anschlag verdächtigt zu werden, müssen jedoch nur wenige befürchten; Opfer von Terror können hingegen alle sein.
Hinzu kommt, dass Terroristen oft jahrelang unauffällig, aber bereits mit festem Tatvorsatz in der Gesellschaft leben. All das weckt berechtigte Ängste und den Wunsch, potenzielle Terroristen möglichst schon aus dem Verkehr zu ziehen, bevor sie ein Verbrechen begehen können. Der Wunsch ist verständlich – und untergräbt den Rechtsstaat. Ein potenzieller Verbrecher ist nämlich kein Verbrecher, sondern ein Unschuldiger.
Es ist relativ einfach, die US-Regierung wegen der Verletzung rechtsstaatlicher Prinzipien im Gefangenenlager Guantánamo zu kritisieren. Amerika ist weit weg. Bremen nicht. Es gibt viele – Politiker und andere Leute –, die den aus der Hansestadt stammenden Türken Murat Kurnaz, der jahrelang in Guantánamo unter Terrorismusverdacht einsaß, am liebsten nie wieder nach Deutschland hätten einreisen lassen. Sicher ist sicher. Weiß man denn eigentlich, wie er heute so denkt?
Nein, das weiß man nicht, und das geht Staat und Öffentlichkeit auch nichts an. Murat Kurnaz konnte keine Straftat nachgewiesen werden. Das ist das Einzige, was zählt. Es ist ein Sieg des Rechtsstaates über seine inneren und äußeren Feinde, dass der junge Türke in seine alte Umgebung zurückkehren kann, und es steht zu hoffen, dass er es unbehelligt tun darf. Die Unschuldsvermutung muss aber nicht nur für ihn, sondern auch in anderen, weniger prominenten und spektakulären Fällen gelten. Der Entzug einer Aufenthaltserlaubnis auf einen bloßen Verdacht hin ist ebenfalls eine Verletzung des Rechtsstaates. BETTINA GAUS