kritisch gesehen: Verletzte Gefühle beim Federball
In der Gaußstraße zeigt das Thalia-Theater Hamburg eine frech mit Komik angefüllte „Möwe“

Das Federballspiel erzählt von Überdruss und Kostja ist eine Frau. Zumindest ist das in Charlotte Sprengers Inszenierung von „Die Möwe“ im Thalia Theater in der Gaußstraße so. In Tschechows handlungsarmem, tiefenpsychologischem Stück geht es um die große Kunst und verletzte Gefühle, um die wahre Liebe und um den Sinn des Lebens. Geschrieben wurde es 1895. Vielfach wird es noch immer aufgeführt. Schließlich sind die Themen zeitlos. Sie erzählen von einer Gesellschaft, die sich gegenseitig zerfleischt, von Generationen ohne Toleranz, von verletzten Künstler*innen-Egos, von Eifersucht und Eitelkeiten.
Sprenger bereitet Tschechows kapriziöser Sommergesellschaft ein Federballfeld. Quer über die gesamte Bühnenbreite hat es Aleksandra Pavlović (Bühne und Kostüme) ausgebreitet. Weiß gekleidet und sommerlich lebenslustig spielen sich darauf fast alle Figuren die Bälle zu. Nur Kostja – großartig verkörpert von Anna Marie Köllner –, die sprunghafte, rebellische Tochter der erfolgreichen Schauspielerin Arkadina (Victoria Trauttmansdorff), ist außen vor, ganz wörtlich: Sie hat ihr Set im Foyer des Theaters aufgebaut, um dort einen avantgardistischen Kunstfilm zu drehen. Dieser wird live in den Theaterraum projiziert. Es ist recht amateurhafte, trashige Filmkunst – inklusive Tim Porath als wunderbar eifrigem Aufnahmeleiter – vor pastellfarbener Eis-Café-Kulisse gedreht und mit Fragen zur Liebe schmalzig unterfüttert. Mit diesem Werk buhlt Kostja nicht nur um die Anerkennung ihrer Mutter, von der sie nur ein schulterzuckendes „ich versteh’s nicht“ erntet, sondern will vor allem zeigen, was die junge Künstler*innen-Generation drauf hat.
Im Laufe des Abends allerdings verrennt sich Kostja mehr und mehr im eigenen Konzept, verirrt sich in ihren Gefühlen zu ihrer Hauptdarstellerin Nina (Pauline Rénevier), vermischt Realität und selbst gemachte Fiktion und verliert sich schließlich in der Kunst. Dass sich Nina in Arkadinas Liebhaber verguckt, den blasierten Schriftsteller Trigorin (Merlin Sandmeyer), macht die Situation natürlich nicht einfacher.
Bald werden die Dreharbeiten sprunghafter, die Dialoge zwischen den auf dem Sportfeld versammelten Künstler*innen atemloser. Mit großen fahrigen Gesten versuchen diese ihre Gefühle, aber auch die große Kunst, zu erklären, legen sich mal vollkommen erschlafft und mit weit ausgebreiteten Armen hin, umschwärmen einander kreuz und queer, üben abwechselnd den Rückhandaufschlag und gleich darauf das große Drama: Hier ist offenbar alles Spiel im Spiel und nichts verbindlich. Schon gar nicht das gesprochene Wort.
So gehen in dieser rasanten „Möwe“-Inszenierung Figuren und viele feinsinnige Dialoge verloren, genauso wie jegliche ernst gemeinte Verzweiflung an der Welt. Übergangen, geradezu überspült werden die im Stück so wunderbaren, subkutanen zwischenmenschlichen Schwingungen. Stattdessen wird meist mit offener Hintertür gespielt, in einem Modus des „Als ob“, als wäre das Gesagte, etwa das zarte Liebesgeständnis, nicht ganz ernst gemeint.
Die Möwe: wieder am 2. und 3. 6. um 20 Uhr sowie am 9. 6. um 19 Uhr, Thalia an der Gaußstraße, Hamburg
Sprenger interessiert sich mehr für den sprunghaften, wilden Wechsel zwischen Kunst und Wirklichkeit und für den unscharfen Moment, in dem die Wirklichkeit zur Kunst wird, und umgekehrt. So entsteht eine „Möwe“ mit Charakteren, die – in herrlich exaltierten Kostümen – meist neben sich stehen und heiter scheitern. Eine „Möwe“ mit Discolicht und jeder Menge alberner Musik und eine „Möwe“, deren eigentlicher Tiefgang randvoll und frech mit Komik gefüllt ist. Katrin Ullmann
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