Theaterstück „Orestie I–IV“ in Hamburg: Antike als Tiktok-Feed
Nicolas Stemann mischt am Hamburger Thalia Theater antike Dramen mit viel Pop. Das ist sehr unterhaltsam, aber Inhalte gehen im Theaterzauber unter.
![Auf einer Bühne sitzt eine Schauspielerin vor einem Spiegel. Im Hintergrun stehen andere Schauspieler:innen, auf den Wänden sind Projektionen ihrer Gesichter zu sehen Auf einer Bühne sitzt eine Schauspielerin vor einem Spiegel. Im Hintergrun stehen andere Schauspieler:innen, auf den Wänden sind Projektionen ihrer Gesichter zu sehen](https://taz.de/picture/7370123/14/1ead758cb6d3f1-1.jpeg)
Antiken-Marathon, das klingt gefährlich, nach langwieriger Sitzfleisch- und Hirnmasse-Belastung für Theater-Kenner:innen, über die man danach noch ewig diskutieren muss. Auch Nicolas Stemanns Ambitionen für seine knapp vierstündige Adaption der antiken Orest-Tragödien des Aischylos klingen bedrohlich: „Die 2.500 Jahre alte Trilogie beschreibt die psychische Grundstruktur, die Menschen dazu bringt, sich in Kriege zu begeben“, informiert er im dicken Buch, das im Hamburger Thalia-Theater verteilt wird, über den Anspruch seiner „Orestie I–IV“.
Denn ja, Stemann hat den Text selbst geschrieben, sich dabei außer bei Aischylos’ drei Tragödien noch querbeet bei Sophokles und Euripides bedient und dem Ganzen noch einen vierten Teil hinzugefügt.
Erzählt wird dennoch wieder die blutige Geschichte des Atridengeschlechts, in der Mord auf Mord folgt: Agamemnon, Anführer der Griechen im Trojanischen Krieg, wird von seiner Ehefrau Klytaimnestra bei der Heimkehr ermordet. Danach geht es um die Vergeltung durch Orest und den Versuch, den Kreislauf der Gewalt zu durchbrechen.
Außerdem, verspricht das Buch zum Stück, soll es um die Darstellbarkeit von Krieg gehen, um Gerechtigkeit sowie um die Gefährdung der Demokratie. Stemann wertet seine Produktion als Versuch, die Gewaltzusammenhänge für ein zeitgenössisches Publikum greifbar zu machen, das in der Nähe von lauter Kriegen lebt, die es aber nur indirekt erlebt. Na dann.
Wacker gegen vereinfachte Sprache
Am Ende ist man erstaunt, wie leichtfüßig der Abend die großen Fragen verhandelt und wie kurzweilig er ist. Die Bühne ist minimalistisch, aber wirkungsvoll: Ein paar Tische, etwas Technik und eine Schiebetreppe – fertig ist der Olymp.
Das Ensemble ist nicht nur hochkarätig – Barbara Nüsse, Sebastian Rudolph, Patrycia Ziolkowska, Julia Riedler und Sebastian Zimmler –, sondern wuselt, klettert und tanzt auch großartig spielfreudig herum. Dabei kämpft es wacker mit der vereinfachten Sprache, die Stemann den Figuren in den Mund legt.
Immerzu passiert irgendwo etwas. Wände werden zu Leinwänden, über die plakative Kriegsbilder flimmern oder Aufnahmen davon, wie sich die Schauspieler:innen selbst filmen, als würden sie Instagram-Stories produzieren, die Gesichter mit niedlichen oder gruseligen Filtern verzerrt. Plötzlich tauchen KI-Köpfe auf. Am Ende hat man ein bisschen das Gefühl, als habe man gerade einen Tiktok-Feed der „Sendung mit der Maus“ aufgerufen, der bildungsbürgerlich, aber voll zeitgemäß griechische Dramen kindgerecht erklärt.
Multimediales Spektakel
Das ist oft unterhaltsam und manchmal brillant: So beeindruckt die Transformation der Blutrache in rechtsstaatliche Gerichtsbarkeit in ihrer Schilderung durch Aischylos als utopischer Traum vor dem Hintergrund einer grausamen politischen Realität. Stemann nutzt alle ihm zur Verfügung stehenden inszenatorischen Mittel, um diesen Prozess zu visualisieren: Musik, Gesang, Videokultur und KI-Intermezzi verschmelzen zu einem multimedialen Spektakel.
Letzte Aufführungen am Sa, 23.11., 16 Uhr, und So, 24.11., 17 Uhr, Thalia Theater, Alstertor 1, Hamburg
Aber nicht immer gelingt die Vermischung von Hochkultur und Pop: Wenn die Erinnyen, also die antiken Rachegöttinnen, plötzlich wie eine Boygroup performen, ist das ein bisschen peinlich.
Leider gehen am Ende all die gar nicht uninteressanten aktuellen Bezüge zum Klimawandel oder der Gefahr von rechts, die Stemann in den antiken Text einwebt, in einer Flut von popkulturellen Anspielungen, Reality-TV-Elementen und Theaterzauberei unter. So wirkt das Ganze als beleuchte man einen antiken Tempel mal mit Neonröhren: interessant, aber irgendwie deplatziert.
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