kritisch gesehen: Der private Kriegsberichterstatter
Das ist mal ein stattliches Alter: Am 20. Dezember wird Tony Vaccaro, US amerikanischer Fotograf mit italienischen Wurzeln und großer Liebe zum Land seiner Vorfahren 100 Jahre werden. Das Braunschweiger Museum für Photographie widmet ihm zu dem Anlass eine Retrospektive. Jüngst hat Vaccaro eine Corona-Infektion überstanden. Sein fotografisches Werk begonnen hat er im Zweiten Weltkrieg, aber anders als seine Kolleg:innen Margaret Bourke-White (1904–1971), Lee Miller (1907–1977) oder Robert Capa (1913–1954), nicht als offizieller Kriegsberichterstatter. Vaccaro fotografierte ab Ende 1944 im Rahmen seines militärischen Dienstes die Befreiung Westeuropas privat.
Ohne Verwertungsauftrag konnten seine Aufnahmen eine andere Sprache entfalten als die des oft reißerischen Bildjournalismus. Sie prägt die Konzentration auf die Situation und ihre Protagonist:innen. Zwar findet sich mit dem Foto „White Death“, dem schneebedeckten Leichnam eines in Belgien Gefallenen aus dem Januar 1945: ein ikonisches Bild, gerade weil es, abstrahiert zu einer topografischen Verwerfung, vermag, die Würde des anonymen Toten zu wahren.
Vaccaro blieb bis 1949 in Frankfurt, dokumentierte, nun im Auftrag der Militärzeitschrift „Stars and Stripes“, das Erwachen zivilen wie kulturellen Lebens in Europas Ruinen.
Dabei verschlug es ihn auch in die Region Braunschweig. Eine seither verwendete Rolleiflex zeugt davon. Für die Bildauswahl der Braunschweiger Ausstellung spielten solche Lokalbezüge zum Glück keine Rolle. In den USA wurde er zum Porträtisten einer sich rasant wandelnden Welt, fotografierte für große Magazine Prominenz aus Kunst, Sport oder Politik. Immer wieder auch in Europa: Autobauer Enzo Ferrari, Regisseur Vittorio de Sica mit Sophia Loren, Architekt Le Corbusier, Modestrecken, inszeniert in Finnland, der Heimat seiner Frau. Diese Auftragsarbeiten spiegeln ein unaufdringliches Interesse wider, Sensibilität und feinen Humor im Dienste einer künstlerischen Komposition mit Aussagekraft.
Leider endet der Werksquerschnitt im Jahr 1983, mit einem Foto von Muhammad Ali. Das wirkt willkürlich. Tony Vaccaro war damals gerade mal 60 Jahre alt. Fehlt da nicht die zweite Hälfte eines Oeuvres? Bettina Maria Brosowsky
„Tony Vaccaro 100!“, Museum für Photographie Braunschweig, bis 4. Dezember
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