kritisch gesehen: „60,70,80 – Architekturführer der Moderne“ für die Region Braunschweig: Architekten-Anekdoten können das Denken nicht ersetzen
Der Kunsttheoretiker Bazon Brock hat einmal gesagt, dass eine Werkauswahl am besten dadurch begründet wird, dass man auch zeigt, was nicht ausgewählt wurde. Ein argumentatives Defizit in diesem Sinne zeichnet den gerade erschienenen Band „60 70 80: Architektur der Moderne in Braunschweig, Helmstedt, Peine, Salzgitter, Wolfenbüttel und Wolfsburg“ aus.
Natürlich ist jeder Architekturführer willkommen, der die landläufig diskreditierte Nachkriegsmoderne in den Blick nimmt, für sie wirbt. Aber auch da kommt es darauf an, zu erklären, worauf sich die Auswahl stützt, also wie weit ein Bau repräsentativ und in seiner architektonischen Qualität beispielhaft ist für das betrachtete Baualter. Noch wichtiger wäre zu fragen: Ist der Bau charakteristisch für aktuelle Problemstellungen in Erhalt und Weiterentwicklung dieses vernachlässigten Bestandes? Wie ließe er sich dafür „ertüchtigen“? Solche Einschätzungen würden dann aber eine tiefergehende Auseinandersetzung mit dem einzelnen Objekt und ein persönliches Bekenntnis erfordern – mit Mut zur Kontroverse. Aber ein Autorenteam aus dem Umfeld der TU Braunschweig sollte doch über die nötige Autorität verfügen, um sich da ranzutrauen?
Aus Braunschweig haben rund 30 Bauten Erwähnung gefunden, ein Spektrum von Wohnen, Handel und Verwaltung, viele Forschungseinrichtungen sowie Bildung und Kultur; darunter auch zwei Kaufhausbauten aus dem Galeria-Portfolio, die seit Geraumem leer stehen.
Schweigen über die Not der Aalto-Kirche
Auf diesen Umstand wird zwar bei einem dieser Monolithen hingewiesen. Aber ohne zu reflektieren, welche städtebaulichen Probleme solche Kolosse aufwerfen, oder gar welch kreative Freiräume sich in den ökonomisch mehrfach abgeschriebenen Substanzen eröffnen könnten! Stattdessen beschränken sich Erläuterungen auf den Wettbewerbs- oder Entstehungsprozess anno Schnee und anekdotische Architektenviten.
Ärgerlicher wird es, wenn bei der Heilig-Geist-Kirche in Wolfsburg, immerhin ein denkmalgeschütztes Kleinod des finnischen Architekten Alvar Aalto, unterschlagen wird, dass der Gebäudekomplex zum Verkauf steht, und welche Risiken dies bedeutet. Und unerträglich ist, dass ein aktuelles Problemkind wie die Stadthalle Braunschweig komplett fehlt. An diesem anerkannten Baudenkmal wird gerade exemplarisch durchexerziert, wie die anstehende Sanierung eines kommunalen Gebäudekomplexes schiefgeht – nämlich über ein vom Stadtrat 2018 beschlossenes „Totalunternehmermodell“ durch einen Investor, der Bau-, Finanzierungs- und Betriebskosten für 20 Jahre übernimmt.
Dieser beschlossene risikobereite Financier fehlt indes bis heute. Stattdessen sind 4,5 Millionen Euro öffentlicher Gelder futsch. Und die Stadthalle verkommt in einer Restmischnutzung aus Impfzentrum oder Notunterkunft für Flüchtlinge. So bleibt das bunte Büchlein mit eher belanglosen Fotos, schlampigem Lektorat und ohne jede Innenraumimpression eine konfliktmeidende Lektüre für Ausflüge. Wer will, kann dazu noch eine App installieren.
Bettina Maria Brosowsky
„60 78 80: Architektur der Moderne in Braunschweig, Helmstedt, Peine, Salzgitter, Wolfenbüttel und Wolfsburg“. Hg.: Braunschweigische Landschaft, Braun Publishing, 224 S., 29,90 Euro
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