kommentar : Kollektive Wurzelbehandlung
Die Welt geht unter. Heil davon kommt nur, wer keine Nachrichten guckt
Es gibt Grund, sich zu fürchten. Viele spüren es mit Gewissheit zwischen Schädeldecke und Unterleib: Der alles verzehrende Weltenbrand, die Apokalypse steht kurz bevor. Die Zeichen sind ja kaum zu übersehen: Flugzeuge fallen dieser Tage wie Sternschnuppen vom Himmel, und der Planet versucht mit Gewalt, diesen lästigen Parasiten namens Mensch von seinem Rücken zu waschen. Alles hängt zusammen – Weltverschwörung, Götterdämmerung.
Weitsicht ist all jenen zu attestieren, die in der U-Bahn ängstlich zusammenzucken, wenn ein Mann mit längerem Bart und Rucksack einsteigt. Sie haben die Zeichen der Zeit erkannt. Richtig machen es auch all jene Security-Leute in Museen, die Kleinkinder an den Händen ihrer Mütter ausgiebig mit dem Metalldetektor untersuchen. Schließlich weiß man ja heutzutage nie.
Die ältere Frau von gegenüber aber hat’s schon lange gewusst. Seit Monaten warnt sie Autofahrer mit hinter die Scheibenwischer geklemmten Texten über Marienerscheinungen vor dem nahen Weltende. Und auch dessen Datum ist jetzt endlich bekannt: morgen, 9 Uhr, Zahnarzt, Wurzelbehandlung.
Die Nerven liegen blank. Viele haben im Moment Angst, viele Ängste sind irrational, lähmend. Genau wie die flugs konstruierten, haltlosen Zusammenhänge, die alles erklären sollen. Sie erklären nur eines: die Suche nach Durchblick und Halt in unübersichtlichen, stürmischen Zeiten.
RETO GLEMSER