kommentar: Antisemitismus ist nicht durch Machtworte von oben zu stoppen
Nehmen die Deutschen Möllemanns Flirt mit dem Antisemitismus auf die leichte Schulter? Auch seine Behauptung, Juden wie Michel Friedman seien mitverantwortlich für den anwachsenden Antisemitismus? Zumindest Paul Spiegel, der Vorsitzende des Zentralrats der Juden in Deutschland, scheint dies so zu sehen und hat deshalb gestern Alarm geschlagen. Einen „Aufstand der Demokraten“ fordert er, „um Möllemann in die Schranken zu verweisen, in die er gehört.“ Namentlich erwartet Spiegel von den Kirchen, den Gewerkschaften und Arbeitgebern und von Bundespräsident Johannes Rau mehr Unterstützung.
Es ist Paul Spiegel unbenommen, sich ein Urteil darüber zu bilden, ob die Welle der Empörung, die Möllemann seit nahezu drei Wochen aus allen demokratischen Ecken entgegenschlägt, ausreicht oder nicht. Festzuhalten bleibt aber auch: Schon seit langem wurde nicht mehr so viel und so differenziert über das Verhältnis zwischen jüdischen und nichtjüdischen Deutschen debattiert wie in diesen Tagen. In den Medien, den Schulen, den Familien und in Kneipenrunden ist es das vorherrschende Thema.
Zu welchem Ergebnis diese tausende von Gesprächen führen, ist offen. Am Ende kann eine Entkrampfung des deutsch-jüdischen Verhältnisses ebenso stehen wie eine Verstärkung antisemitischer Ressentiments, die Umfragen zufolge bis zu 30 Prozent der Bundesbürger pflegen. Doch trotz aller Unwägbarkeiten reichen die Erfahrungen der letzten Tage für eine Zwischenbilanz: Wir erleben eine kontroverse und plurale Debatte, die einer offenen Gesellschaft würdig ist. Nicht mehr die moralischen Instanzen von den Kirchen über Günter Grass bis zu Ralph Giordano geben von oben die Stichworte vor – derzeit findet vor allem auch eine Verständigung dort unten statt.
Die Unruhe und die Befürchtungen im Zentralrat der Juden sind nachvollziehbar. Denn für Juden gab es in Deutschland bislang wenig Gründe, auf die zivilisatorische Kraft von Diskursen der breiten Bevölkerung zu vertrauen. Paul Spiegels Forderung an die Großinstitutionen offenbart aber nicht nur eine autoritäre Staatsvorstellung, sie zielt auch an den Realitäten einer säkularen und zunehmend atheistischen Gesellschaft vorbei. Nicht die Machtworte eines Bundespräsidenten, Bischofs oder hoch angesehenen Intellektuellen haben in den letzten zehn Jahren der rassistischen Gewalt Grenzen gesetzt, sondern das waren die zehntausende von Menschen in Sportvereinen, Bürgerinitiativen, Antifa-Gruppen. Und all diese gilt es jetzt zu gewinnen, wenn Möllemann & Co. gestoppt werden sollen. EBERHARD SEIDEL
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