kommentar: Frankreichs Parlament wird konservativ, denn das „Volk der Linken“ blieb wieder zu Hause
Was ist aus dem „republikanischen Ruck“ geworden? Was aus den Millionen von Franzosen, die zwischen dem ersten und zweiten Wahlgang der Präsidentschaftswahlen im Mai auf die Straße gingen und sich selbst und dem Rest der Welt schworen, dass sie ihre Republik verteidigen würden? Was aus dem „Volk der Linken“, das die sozialen Themen in den Vordergrund stellt – von der Zunahme der prekären Beschäftigungsverhältnisse über das Sinken der Reallöhne bis hin zur Privatisierung der öffentlichen Dienste? Antwort: Ein kümmerlicher Rest.
Einzige gute Nachricht aus dem ersten Durchgang der Parlamentswahlen am Sonntag in Frankreich ist, dass der Stimmanteil für die Rechtsextremen stark gesunken ist. Darüber hinaus ist der große republikanische Elan jedoch einer ganz großen Ernüchterung gewichen. Vom Aufruhr auf der Straße blieb nur die individuelle Misstrauenserklärung gegen die Politiker, und das in nie da gewesenem, für die Demokratie bedrohlichem Ausmaß: Fast 40 Prozent blieben zu Hause.
Eine für Frankreich ungewöhnliche Bipolarisierung teilt nun die Nationalversammlung zwischen der konservativen Partei UMP und der sozialdemokratischen PS auf und drückt die anderen Kräfte auf der Rechten und der Linken an die Wand – besonders die Kommunisten.
Auf paradoxe Art widerspricht die parlamentarische Bipolarisierung auch dem ersten Durchgang der Präsidentschaftswahlen. Dabei hatten sowohl der sozialdemokratische Kandidat Jospin als auch Staatspräsident Chirac, der direkt danach die Gründung der UMP inspirierte, extrem schlechte Ergebnisse erzielt, während die meisten Kleinen neben ihnen extrem gut abschnitten. Wenn die Stichwahl am kommenden Sonntag die Tendenz bestätigt, kann sich Staatspräsident Chirac trotzdem nicht beruhigt zurücklehnen. Denn seine Regierung hat ein Legitimationsdefizit: Nur ein Viertel der Wähler hat für sie gestimmt.
Zur Kraftprobe zwischen den Konservativen und dem bei dieser Parlamentswahl abwesenden „Volk der Linken“ könnte es im Herbst kommen. Dann nämlich will Chirac das Rentensystem „reformieren“. DOROTHEA HAHN
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