kikkerballen: Wirrwarr fußballerischer Identifikationsimpulse
Immer gewinnen die Falschen
„Auf welcher Seite stehst du hey, hier wird ein Platz besetzt!“, sang Walter Moßmann in den heldenhaften 70er-Jahren. Und so stellt sich jetzt – egal ob Belgien gegen Schweden oder die Türkei gegen Italien kickt – mehrmals täglich die Frage unserer Herzenszuordnung. Die schwierige Entscheidung, welcher Mannschaft der Sieg zu gönnen sei, ist immer gepaart mit einer ordentlichen Portion Größenwahn, ganz so, als könne die Auswahl des Günstlings den fußballerischen Weltenlauf tatsächlich beeinflussen. Daumendrücken für die Türken schmälert automatisch die Chancen der Italiener, denn ganz ohne kosmische Energie kann das eigene gekrümmte Däumchen ja nicht sein.
Auf jeden Fall: Mensch will sich auf eine Seite schlagen, er will Partei ergreifen, sich identifizieren. „Es sollte sich niemand darin täuschen, wie potent die Identifikationsimpulse der optischen Berichterstattung sind“, schreibt der Berliner Sportwissenschaftler Alexander von Hoffmann. Darüber zu lächeln oder die Identifikation zu verweigern, hieße, sich „einem uralten machtvollen Effekt zu verschließen“. Nein, das wollen wir nicht. Wir tun, was wir tun müssen.
Beim Eröffnungsspiel ist alles ganz einfach. Dioxin, Coca-Koma-Skandal, Kinderschänder, EU-Bürokraten: Niemand auf Gottes Erdboden kann den Belgier sympathisch finden. Da mag Willi das Kampfschwein noch so rackern, die Freundin von Emile Mmmmmmpenza noch so süß in die Kamera blinzeln. Ganz klar: Der Belgier soll verlieren, unser Herz schlägt für den Schweden. Der prompt mit 1:2 abschmiert.
Es kann nur besser werden: Niederlande gegen Tschechien. Eigentlich lieben wir die Außenseiter, also Tschechien. Die sehen aber mit ihren meterlangen Kniebundhosen so bescheuert aus, dass ästhetische Minimalia deutlich unterschritten werden. Ihre Hosen erinnern fatal an Gerhard Vinnais’ „Elend der Männlichkeit“, worin zu lesen steht: „Der Sport lebt nicht zuletzt von der Abwehr sexueller Regungen!“ Andererseits muss der latente Rassissmus in der niederländischen Mannschaft auf unsere scharfe Ablehnung stoßen, und dann noch das Vorstrafenregister von Oberfrüchtchen Patrick Kluivert. Außerdem hat Ronald de Boer vehement gefordert, dass niederländische Nationalspieler keine Steuern mehr zahlen sollen, weil sie ohnehin schwer im Dienste der Nation stehen. Sollen wir so jemandem zum Sieg verhelfen? Dazu noch der Recke Jaap Stam, auf dessen Trikot statt der Rückennummer eigentlich ganz Anderes stehen müsste: „Ich bin zwei Öltanks!“. Aber die Tschechen haben Koller, der ist mindestens drei Öltanks. Trotzdem: Wir halten zu den Tschechen. Leider hat das der Schiedsrichter irgendwie nicht mitbekommen. Elfmeter, 0:1, aus!
MANFRED KRIENERS EM
Mein Spieler: Michael Owen, keiner ist wuseliger als der kleine Brite.
Meine Mannschaft: Die Unsrigen, denn Fußballfans dürfen die Freundin wechseln, aber niemals die Mannschaft.
Mein Favorit: Spanien, der beste europäische Vereinsfußball wird sich durchsetzen.
Mein Nationalismusfaktor(0–100): Gesunde 82,5
Identifikation heißt in solchen Momenten, herzhaft ins Sofakissen zu beißen. Und jetzt auch noch Frankreich gegen Dänemark. Die alternden Weltmeister. Wollen wohl alles gewinnen. Aber nicht mit mir. Andererseits haben sie den wundervoll melancholischen Zidane, dem die Haare ausgehen und der schon deshalb unsere äußerste Zuwendung verdient hätte. Und vorne das Gazellen-Duo Henry und Anelka. Hinreißend! Also: Frankreich soll gewinnen. Bumm, bumm, bumm, eine 3:0-Klatsche für Dänemark. Und dabei haben Töfting und Co. so großartig gekämpft. Hätten wir nicht doch zum armen Dänen halten sollen? Ein Pyrrhus-Sieg, der uns überhaupt nicht schmeckt. Wenn wir diese Überheblichkeit des Franzosen erahnt hätten. War das gerecht?
Wir lernen beim Sportprofessor Günter Gebauer: „Sportzuschauer sind oft von dem Wunsch besessen, dass es beim Sport gerecht zugehen müsse. Für die Fans drückt ein Fußballspiel ein moralisches Geschehen aus. Unverdiente Niederlagen sind moralische Skandale, die danach rufen, dass die Welt wieder in Ordnung gebracht wird.“ Eben! Es kommen ja noch fünf Spiele in der Dänemark-Gruppe. Warte, warte, Franzos!
MANFRED KRIENER
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen