Kaputte Kupferspiralen: Schmerzhafte Suche nach dem Seitenarm
In der Gebärmutter einer Frau zerbricht die Spirale. Jetzt verklagt sie den Hersteller. Das könnten Hunderte weitere Betroffene auch tun – noch.

Statt sorgenlos Sex zu haben, muss eine junge Frau aus Leipzig jetzt vor Gericht ziehen. Nach Jahren des Leids verklagt sie die Firma Eurogine. Das ist der spanische Hersteller der auch in Deutschland vertriebenen Kupferspirale „Ancora“. Eine Charge der Spiralen war defekt, Tausende Frauen waren im Laufe der letzten Jahre davon betroffen. Den wenigsten von ihnen ist bisher Gerechtigkeit widerfahren – doch die Zeit, die ihnen für den Rechtsweg bleibt, ist knapp.
Die Frau aus Leipzig, nennen wir sie hier Sina Lang, entscheidet sich 2017 für eine Kupferspirale. Damals ist Lang 26 Jahre alt. „Von hormoneller Verhütung wie mit der Pille hatte ich die Nase voll“, erklärt sie ihre Beweggründe im Gespräch mit der taz. Die Pille kann Kopfschmerzen, Verstimmungen oder Zwischenblutungen auslösen, sie erhöht das Risiko von Thrombosen und Brustkrebs. „Ich habe nicht mehr eingesehen, dass ich als Frau meinen Körper so einer Belastung aussetzen soll“, sagt Lang.
Abhilfe verspricht die Kupferspirale, medizinisch korrekt „Intrauterinpessar“. Das ist ein T-förmiges Plastikstück in der Größe von 2,5 bis 3,5 Zentimetern. Der Schaft ist mit Kupferdraht umwickelt und gibt keine Hormone, sondern Kupferionen ab. Diese verändern den Schleim im Gebärmutterhals, sodass Spermien schwerer hineingelangen können und weniger beweglich sind.
Außerdem verhindert die Kupferspirale, dass eine befruchtete Eizelle sich einnisten kann. Diese Spiralen können bis zu fünf Jahre im Körper bleiben und gelten als sichere Verhütungsmethode. Eingesetzt werden sie sowohl in gynäkologischen Praxen als auch in einigen Familienplanungszentren. Lang geht zum medizinischen Zentrum von ProFamilia in Bremen, wo sie damals lebt, und bekommt dort am 14. September 2017 die Spirale des Typs Multiload namens „T-Safe CU 380A QL/Ancora 375 (Lot-Nummer 0216) eingesetzt. Warum die genaue Nummer wichtig ist, wird sie erst viel später verstehen.
Kurz vor Ablauf der fünf Jahre, im April 2022, lässt Lang, die inzwischen nach Leipzig gezogen ist, die Spirale entfernen. Da erlebt sie den ersten Schock: Ihre Frauenärztin zieht einen Stab heraus, doch es fehlen die beiden Seitenarme. Die Ärztin, die Lang sehr schätzt, habe irritiert gewirkt. „Die dachte, es handle sich um ein Spiralen-Modell, das sie nicht kennt – und hat mich nach Hause geschickt.“ Dabei hatte das Bundesinstitut für Arzneimittel und Medizinprodukte (BfArM) schon Ende 2019 öffentlich gewarnt: Bei Spiralen von Eurogine können die Seitenarme brechen. Ob Langs Ärztin das wusste, ist unklar; auf die Fragen der taz hat sie bisher nicht geantwortet.
Hersteller gesteht Produktfehler ein
Erst Monate nach dem Besuch bei der Ärztin weist eine Freundin Lang darauf hin, dass die Firma Eurogine eine Rückrufaktion für Spiralen gestartet hat. Dazu hatte das zuständige BfArM den Hersteller aufgefordert, wie aus einer Antwort der Bundesregierung auf eine Kleine Anfrage der Linken im Bundestag von 2024 hervorgeht.
Sina Lang, Betroffene
„Nach dem Hinweis meiner Freundin habe ich natürlich sofort überprüft, welche Modelle betroffen waren“, erzählt Lang. Sie stellt fest: Auch die Charge ihrer Spirale steht auf der Liste. Also geht sie im Oktober 2022 erneut zu ihrer Gynäkologin. Auf dem Ultraschall, der der taz vorliegt, entdecken sie einen der Seitenarme. „Eine Weile später, als ich meine Tage hatte, hing einer der Seitenarme dann an einem Tampon. Aber wo der zweite abgeblieben ist? Keine Ahnung!“
Ihre Ärztin überweist sie deshalb an einen Kollegen mit besserer Technik. Doch auch der findet nichts. In Lang steigt Panik auf. „Was, wenn das Teil in andere Organe gewandert ist? Was passiert dann? Ist das gefährlich?“ Fragen, die Lang bis heute niemand beantwortet hat. „Dass niemand Wissen, geschweige denn Lösungen hatte, hat mich fertig gemacht. Ich habe mich unfassbar allein damit gefühlt“, sagt Lang.
Sowohl das deutsche BfArM als auch Abgeordnete des EU-Parlaments kritisierten die unzureichende Kommunikation des Rückrufs, doch konkrete Konsequenzen blieben aus. Das BfArM schreibt der taz dazu: „Die Kundeninformationen des Herstellers sind offensichtlich nicht an alle betroffenen Parteien (Apotheken, Großhändler, Gynäkologen) gegangen.“ Hat ProFamilia Bremen die Betroffene gewarnt? Belege dafür legt der Landesverband auf Nachfrage der taz unter Verweis auf fehlende Zeit nicht vor. Eine frühzeitige Warnung hätte Lang geholfen. „Dann hätte ich die Spirale sofort entfernen lassen“, betont sie. Womöglich wäre es dann gar nicht zum Bruch gekommen.
Langs neuer Arzt schlägt einen Eingriff unter Vollnarkose vor. Dabei soll mit einer Kamera nach dem Plastikstück in ihrem Körper gesucht werden. Mangels anderer Ideen der Fachleute lässt Lang sich darauf ein. Die Erfahrung belastet sie. Sie habe sich geschämt, nackt mit gespreizten Beinen vor Fremden zu liegen. „Ich habe gezittert und hyperventiliert, bis zum Glück die Narkose eingesetzt hat.“ Doch die Strapazen sind umsonst. Der Seitenarm wird auch dieses Mal nicht gefunden.
Blutungen und Angst vor Kinderlosigkeit
Bis heute weiß niemand, ob er unbemerkt ausgeschieden wurde oder noch in ihrem Körper steckt – und wenn ja, was das für ihre Gesundheit bedeutet. „Diese Unsicherheit ist die Hölle“, sagt Lang. „Ich weiß nicht, ob ich mit dem Teil in meinem Körper schwanger werden kann.“ Während Lang fürchtet, am Ende keine Kinder bekommen zu können, geht es anderen Frauen genau umgekehrt: Im Zusammenhang mit den defekten Spiralen sind laut BfArM allein in Deutschland mindestens 23 ungewollte Schwangerschaften gemeldet worden.
Statt Erkenntnisse bringt der Eingriff Lang etwas anderes: tagelange Schmerzen und Blutungen. Da Lang selbstständig tätig ist, hat sie zudem erhebliche Verdienstausfälle. Auch ihr Sexleben verändert sich. Mit ihrem Freund, der ihr all die Monate unterstützend zur Seite steht, nutzt sie nur noch das Kondom, obwohl sie das nicht optimal findet. „In alle anderen Verhütungsmittel habe ich das Vertrauen verloren.“
Lang kann nicht mit dem Thema abschließen. Sie liest weiter und findet heraus, dass die Spiralen auch bei vielen anderen Frauen gebrochen sind, etwa in Österreich, Spanien und Frankreich. Der Verbraucherschutzverein Österreich strengte eine Sammelklage mit 1.200 Betroffenen an. Weil Lang in Deutschland lebt, kann sie sich dieser nicht anschließen.
Aber der Verein bringt sie in Kontakt mit der Münchner Kanzlei CLLB Rechtsanwälte. Die vertritt mehrere Hundert Betroffene von defekten Spiralen, wie der dort tätige Anwalt Matthias Ruigrok van de Werve der taz sagt. Das BfArM bestätigt der taz, dass bei ihm bislang insgesamt 875 Meldungen über Brüche eingegangen sind.
Anfang 2024 meldet der Anwalt sich bei Lang. Er ist bereit, sie zu vertreten. Sie windet sich. Sie hat keine Rechtsschutzversicherung, kein Geld auf der hohen Kante und hat schon jetzt viel Zeit und Nerven in die ganze Sache gesteckt. „Aber diese Ungerechtigkeit, also dass ein großes Pharmaunternehmen mit schlechten Produkten auf Kosten von uns Frauen Profit macht – und damit einfach davonkommt –, das geht gar nicht!“, findet Lang.
Mit ihrem Anwalt fordert sie gut 8.000 Euro von Eurogine. Die Unterlagen des Falls liegen der taz vor. Der Konzern verlangt, dass Lang die Bruchstücke der Spirale nach Barcelona schickt. „Wie absurd!“, sagt sie. „Schließlich ist der Seitenarm verschwunden.“ Ende des Jahres entscheidet sie sich, Klage einzureichen. Das Landgericht Leipzig setzt den Streitwert auf 6.000 Euro fest.
Im April dieses Jahres erhält Lang die Klageerwiderung von Eurogine. Den Produktfehler gibt die Firma zwar zu, sie schreibt, dass „das Bariumsulfat stark vereinfacht dargestellt nicht richtig vermengt wurde, sodass es schneller brüchig ist“. Aber Langs sonstige Darstellung bestreitet Eurogine auf mehr als 30 Seiten: Sie hätte die Spirale früher eingelegt als behauptet, für den Folgeeingriff sei gar keine Vollnarkose nötig gewesen, ihre Ängste nicht ausreichend ärztlich belegt.
Lang weiß, dass das juristisch üblich ist, dennoch trifft sie der Brief: „Als ich das gelesen habe, habe ich mich plötzlich ganz klein gefühlt.“ Sie schämt sich. In ihrem Kopf habe eine Stimme herumgespukt, die ihr sagt, sie hätte übertrieben, sich zu sehr 'angestellt’.
Das Gericht schlägt einen Vergleich vor: 1.500 Euro für Lang, und die Sache wäre erledigt. Doch das deckt ihre Kosten nicht. Der Anwalt rät ihr zum Prozess. Aber Lang hat Angst: „Was, wenn ich verliere? Woher soll ich das Geld für Gerichtskosten und teure Anwälte der Gegenseite nehmen? Ich war kurz davor, aufzugeben“, sagt sie rückblickend.
Empfohlener externer Inhalt
Defekte Spiralen gefährden Frauengesundheit

Sie entscheidet sich zu kämpfen
Erst Gespräche mit Freund*innen, die auch eine Chatgruppe gegründet haben, um für Sina Lang da zu sein, bestärken sie, den Vergleich abzulehnen und weiterzukämpfen. Heute sagt sie: „Es ist richtig, dass ich mich wehre. Das ist mein Recht.“ Das finanzielle Risiko, zu verlieren, nimmt sie in kauf.
Aber ihre Chancen stehen gut: Höchstrichterlich wurde bisher nicht entschieden, doch Eurogine wurde bereits von mehreren Gerichten verurteilt – und das zu Schmerzensgeldzahlungen von bis zu 10.000 Euro. Die Kanzlei, die Lang vertritt, hat nach eigenen Angaben mehr als 20 Verfahren gewonnen. Einige Urteile sind bereits rechtskräftig. In gut dokumentierten Fällen wie dem von Lang könne mit einem Erfolg gerechnet werden, zeigt sich Anwalt Ruigrok van de Werve optimistisch.
Und er weist darauf hin: Wenn Betroffene von dem Defekt erfahren, hätten sie drei Jahre Zeit. Danach verjährt der Fall. Noch ist es für viele der Betroffenen möglich, zu klagen. Bisher, so schätzt der Anwalt, seien höchstens fünf Prozent der Frauen, denen defekte Spiralen eingesetzt wurden, vor Gericht gezogen.
Eine kollektive Kompensation gibt es für Betroffene aus Deutschland bisher nicht. Immerhin berücksichtigen die Gerichte bei der Höhe des Schmerzensgelds, wenn die Beklagten den Geschädigten trotz klarer Rechtslage einen belastenden Rechtsstreit aufbürden. Warum der Konzern diesen Weg wählt, ist unklar. Auf diese und viele weitere Fragen der taz hat Eurogine nicht reagiert.
Um das Geld allein geht es Lang nicht mehr, für sie ist das längst ein politischer Kampf um Gerechtigkeit – auch im Sinne anderer Frauen und Queers. Dafür hat sie auch eine E-Mail-Adresse eingerichtet, unter der sich andere Betroffene melden können, um sich auszutauschen. Ihr Gerichtsverfahren beginnt am 27. August am Landgericht Leipzig. „Egal, wie es ausgeht, ich habe viel Solidarität erhalten und weiß jetzt: Ich bin nicht allein“, sagt Lang.
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