kabolzschüsse: Auf der Suche nach Berlins randigster Randsportart
Capoeira
Brasilien und Fußball gehören zusammen wie Curry und Wurst. Eine besondere Beilage steuert Herthas Alex Alves dazu bei, wenn er mal ins Eckige trifft: Capoeira, den anderen Nationalsport des größten Staates Südamerikas. Dankbar greifen showfixierte Kommentatoren diese Spielart des Eckfahnentanzes Roger Millas’ auf, um wenigstens sekundenlang einen Hauch heißer Rhythmen ins Olympiastadion hineinzupropagieren. „Das ist ein Kampftanz“, sagen sie dann.
Die Zuschauer denken sich vielleicht: Na gut, nach Samba und Lambada noch so ein südamerikanischer Mode-Firlefanz. Doch aus Alves’ Geste lässt sich viel mehr herausholen. Die Wurzeln der Verknüpfung von Körpersprache und afrobrasilianischen Rhythmen liegen vermutlich im 16. Jahrhundert, als die portugiesischen Kolonialisten afrikanische Sklaven zur lebenslangen Arbeit auf ihren Plantagen zwangen. Gelang den Sklaven die Flucht, gründeten sie in Wäldern und Lichtungen, in der so genannten Capoeira, versteckte Siedlungen, die Quilombos. Verfolgt durch Sklavenjäger mussten sie waffenlos ihre ständig bedrohte Freiheit verteidigen.
Aus rituellen Tänzen entwickelte sich die Technik, mit dem Fuß den Gegner am Kopf zu verletzen und sich selbst durch akrobatische Drehungen zu schützen. Um auch in unmittelbarer Umgebung der Sklavenhalter die bis 1936 verbotene Capoeira zu trainieren, bildeten die Umherstehenden einen uneinsehbaren Kreis, die Roda. Bestimmte Rhythmuswechsel der Band ersetzten Trainingsanweisungen und warnten die Kämpfer, wenn sich jemand näherte. Hauptinstrument dieser Bateria ist dabei der einsaitige Berimbau aus einem biegsamen Holzstab, Draht und der aufgesägten, kürbisartigen Kalebasse. Mit einem weiteren Holzstab wird der Draht in Schwingungen versetzt. Während die Tonhöhe durch eine Münze verändert wird, sorgt die Caxixí, eine kleine geflochtene Rassel an der Schlaghand, für den speziellen Sound. Zusammen mit der fasstrommeligen Atabaque, dem Schellentambourin und dem Klatschen der Roda-Mitglieder könne die gesamte Bateria die beiden Capoeiristas in eine tiefe Versenkung versetzen.
„Die Roda ist der Spiegel, die Weltbühne, die Erfahrungen bringt und Hindernisse überschaubar macht, ist Lernfeld um Lebensfreude und Teilnahme zu erlernen bis hin zu Erhabenheit über Angst“, erzählt Peter Schütz von Abadá Berlin, einer von bestimmt 15 Capoeira-Gruppen in der Stadt. Sehr symbolträchtig das Ganze, manchem vielleicht schon zu sehr ins Esoterische abgleitend. Ohne jedoch zur Selbstfindungsgruppe mit Bewegungstherapie zu werden nehmen Capoeiristas nicht nur jährlich am Kreuzberger Karneval der Kulturen teil, sondern bemühen sich auch um Jugendliche und Straßenkinder.
Die 1994 gegründeten Capitães de Areia Berlin sind die „Herren des Strandes“, abgeleitet von der Bezeichnung für obdachlose Kinder in Brasilien. Sie versuchen Jugendlichen über Capoeira Respekt für andere Kulturen „unabhängig von Hautfarbe und Rasse, von Glauben und Lebensart“ zu lehren, „ihr eigenes Potenzial an Kreativität und Fantasie zu entfalten“ und ihre Psyche zu stärken.
Herthas Alex Alves könnte Letzteres am besten durch Tore bewerkstelligen. Denn ob seine Capoeira-Anleihen aus der Leidensgeschichte von Sklaven und Straßenkindern zehren oder einfach nur ein ansehnlicher Ausdruck von Torfreude ist, sei dahingestellt und ist den meisten auch ziemlich egal, wenn er nur trifft.
GERD DEMBOWSKI
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