piwik no script img

jazzkolumneAls Sex in the City und Jazz hippes Synonym waren

Steve Reichs 53-Minuten-Quickie

Es ist ein deutsches Missverständnis, sagt Steve Reich, dass John Coltrane kaum Publikum hatte. Das treffe vielleicht auf Arnold Schönberg oder Ornette Coleman zu, aber Coltranes Platten wurden immer gekauft. Reich akzeptiert in dieser Frage keine Widerrede. Das deutsche Missverständnis führe dazu, dass das Genie in die Ecke gedrängt wird und ohne Zutun intellektueller Profis unverstanden bleibt. Bullshit, eine Musik, die keiner hören will, intellektuell aufzuwerten.

Der subtile Exotenbonus im vagen Genre zwischen Kunst und Pop kommt Reich selbst zugute: Seine Musik eignet sich für das sekundäre Hören und für den wissenschaftlichen Exkurs gleichermaßen. Sie tut nicht weh und hat doch etwas Geheimnisvolles, Erregendes, Unbekanntes. Sie ist flüchtig und direkt zugleich. Sie passt als Klangtapete in einen Designerladen so gut wie in das Repertoire des Ensemble Modern.

Als Reich am Samstag beim Rheingau-Musikfestival in Wiesbaden seine Komposition „Music for 18 Musicians“ aufführte, gab es Standing Ovations für eine 53-minütige Soundorgie voller Wiederholungen, versetzter Patterns und vielschichtiger Binnenrhythmik. Eine Ensembleleistung, die mehr jazzinspirierten Sound und Groove produzierte als 99 Prozent der aktuell tätigen Jazzprotagonisten mit ihren berechenbaren Solo- und Tempiabfolgen und einem stark historisierenden Repertoire.

An einem der vier Flügel spielt Reich selbst, an drei Marimbas und zwei Vibrafonen wechseln sich die Perkussionisten ab, im Bühnenvordergrund sind Violine, Cello, zwei Bassklarinetten und vier Vokalistinnen. 1999 erhielt Reich für die CD mit dem Ensemble Modern einen Grammy in der Sparte „Best Small Ensemble“, die Komposition entstand allerdings schon vor über 25 Jahren. Damals, sagt Reich, wäre es undenkbar gewesen, „Music for 18 Musicians“ von einem deutschen oder europäischen Ensemble spielen zu lassen. Damals habe es hier noch keine klassisch ausgebildeten Ensembles gegeben, die sowohl mit Jazz wie auch mit afrikanischen und balinesischen Rhythmen vertraut waren. Sein „europäisches Ensemble“, das Frankfurter Ensemble Modern, habe heute die nötige Spiel- und Interpretationserfahrung.

„Music for 18 Musicians“ ist direkt vom Jazz beeinflusst – Reich komponierte das Stück in Anlehnung an seine John-Coltrane-Erfahrung der Sechzigerjahre. Doch im Unterschied zum Jazz gibt es hier keinen Raum für Improvisatoren, und die Interpreten wirken auswechselbar, weil sie nicht dem Individualitätshype des Jazz verfallen sind. Von dem Diane Di Prima in ihrem Pre-Beat-Porno „Nächte in New York“ (Rogner & Bernhard) erzählt. Bis er von den Malern, „einer großen grobschlächtigen Männerhorde, die in Ölbildern sprachen und einem sehr väterlich und aufreizend kamen“, abgelöst wurde, war Jazz die angesagte Kunst gewesen. Als Miles Davis und Charles Mingus im Café Boheme spielten, gingen Di Prima und ihre Clique raus, wenn Mingus ein Solo hatte, „schnappten etwas Luft und kamen wieder herein, um Miles’ Trompete zu hören, die uns jedes Mal aufs Neue überwältigte“. Bei dem Versuch „Nächte in New York“ in der Frankfurter Mittagssonne in einer knappen Stunde quer zu lesen, rauschen die mal langen, mal dicken, mal blassen, aber offenbar immer ficktüchtigen Schwänze, mit denen die Protagonistin des Romans nach und nach Bekanntschaft macht, an einem vorbei wie die Soli einer mittelmäßigen Jazzband. Dem Glücksversprechen immer nah und näher, doch bestenfalls das Verlangen nach Individualität im Blick, wird die Gier im kollektiven Orgasmus ertränkt. Eine Redewendung aus der Jazzgeschichte sagt, dass auch der beste Bläser mal sein Saxofon aus dem Mund nehmen muss. Die Namen, die Di Prima in ihrem Roman über „ihr“ New York der frühen Fünfzigerjahre nennt, machen auf befremdende Weise bewusst, wie selten das Solo Ausdruck von Individualität ist. Im Vorwort zur Neuauflage ihres 1969 unter dem Titel „Memoirs of a Beatnik“ erschienenen Buchs erinnert sich Di Prima daran, dass sie beim Schreiben Platten von Charlie Parker und immer wieder „Walking“ von Miles Davis hörte, während „Schwarze und Weiße Panther, Hells Angels, Plappermäuler, Rockbands, diverse chinesische und indianische Dealer und windellose Babys ins Zimmer und wieder hinaus spazierten“. Di Prima wühlt mit ihren Erinnerungen in einer Welt, wo Sex in the City und Jazz ein hippes Synonym waren. CHRISTIAN BROECKING

taz lesen kann jede:r

Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen