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Meine Mutter unterwegs ■ Von Wladimir Kaminer
Die ersten sechzig Jahre ihres Lebens verbrachte meine Mutter in der Sowjetunion, kein einziges Mal überschritt sie die Grenze ihrer Heimat. Obwohl ihre beste Freundin 1982 einen in Moskau studierenden Deutschen heiratete und mit ihm nach Karl-Marx-Stadt zog, wohin sie dann meine Mutter mehrmals einlud.
Der Parteisekretär des Instituts für Maschinenbau, in dem sie arbeitete, musste die für eine solche Reise notwendige Beurteilung schreiben, das tat er aber nie. „Eine Auslandsreise ist eine ehrenvolle und verantwortungsvolle Maßnahme“ – sagte er jedes Mal zu meiner Mutter. „Sie haben sich jedoch auf dem Feld der gesellschaftlich-politischen Arbeit nicht bemerkbar gemacht, Frau Kaminer. Daraus schließe ich, dass Sie für eine solche Reise noch nicht reif sind.“
Reif für die Reise wurde meine Mutter erst mit der Auflösung der Sowjetunion, als sie 1991 nach Deutschland emigrierte. Schnell entdeckte sie eine der größten Freiheiten der Demokratie – die Bewegungsfreiheit. Sie konnte nun überall hin. Aber wie weit will man eigentlich fahren und wie groß darf die Welt sein?
Diese Fragen beantworteten sich quasi automatisch, als meine Mutter sich mit dem Angebot von Roland-Reisen – einem BerlinerBillig-Bus-Reise-Unternehmen – vertraut machte.
Ein Bus fährt bestimmt nicht nach Amerika, Australien oder Indien. Aber er fährt schön lange. Man hat das Gefühl, auf einer weiten Reise zu sein und gleichzeitigbleibt man dem Zuhause irgendwie nahe. Das ist praktisch, preiswert und unterhaltsam.
Obwohl die an sich beliebten Roland-Reisen immer öfter ausfallen – mangels Teilnehmer, hat meine Mutter inzwischen bereits zwei Dutzend Busunternehmungen mitgemacht, und dabei viele Reiseziele erreicht.
In Kopenhagen fotographierte sie die Meerjungfrau, die jedoch gerade mal wieder kopflos war. In Wien erzählte die Reiseleiterin meiner Mutter, dass die WienerWürste dort Frankfurter heißen, ferner dass man dort anständigenKaffee nur im Restaurant vor dem Rathaus bekommt und dass Stapo die Abkürzung für Polizei ist. In Paris fand der Busfahrer keinenParkplatz und sie mussten den ganzen Tag mit dem Bus rund um den Eiffelturm fahren. Am Wolfgangsee kaufte meine Mutter echte Mozartkugeln– die rundesten Pralinen der Welt, die ich seit ihrer Reisefreiheit immer zu Weihnachten geschenkt bekomme.
In Prag wären sie um ein Haar auf der Karlsbrücke mit dem Touristenbus eines anderen Veranstalters zusammengestoßen. Im Amsterdam feierte die Königin gerade ihren Geburtstag, und viele schwarze Mitbürger tanzten vor Freude auf der Straße, als der Roland-Bus mit meiner Mutter dort ankam. In Verona besichtigte sie das Denkmal der shakespeareschen Julia, deren linke Brust von den vielen Touristenhänden bereits ganz klein und glänzend geworden ist. Nach London konnte meine Mutter nicht kommen, weil England nicht zu den Schengen-Staaten gehört und sie erst in Calais feststellte, dass sie für England ein Extravisum brauchte. Dafür fotografierte sie dann über Nacht jedes zweite Haus in Calais.
Die Tatsache, dass sie dem Big Ben und der Tower-Bridge nicht nahe gekommen war, machte ihr nicht viel aus. Sie ist inzwischen eine gewiefte Busreisende, für die gilt: Der Weg ist das Ziel.
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