im wartezimmer zum massaker von HARTMUT EL KURDI:
Als Kind hatte ich große Angst vorm Zahnarzt. Von Gott mit einer geradezu übermenschlichen Vorstellungskraft ausgestattet, saß ich jedes Mal im Wartezimmer und stellte mir bibbernd und en détail vor, was gleich, in den letzten Minuten meines Lebens, passieren würde. Jeder mögliche, durch Schlampigkeit oder Lachgassucht verursachte Kunstfehler, jedes blutspritzende, rituelle Massaker, das dieser Weißkittel mit seinen dämonisch kreischenden und rumpelnden Gerätschaften in meinem Mund verüben, anrichten, zelebrieren könnte, erschien wie ein zwar leicht unscharfes, aber dennoch im Motiv eindeutiges Polaroid vor meinen Augen.
In meiner Fantasie ging ich auf nacktem Zahnfleisch durch die Dentistenhölle. Ganz so fegefeurig wurde es dann nie (wenn ich mal von dieser unglaublichen Wurzelbehandlung absehe!); und mit zunehmendem Alter ließ die Panik langsam nach. Vielleicht wurde sie auch nur durch meine Angst vor Orthopäden ersetzt. Orthopäden sind wirklich böse. Sie sind die Hohepriester der psychischen Folter. In meinem Fall scheint ihr Hauptspaß darin zu bestehen, grausame Prognosen abzugeben.
Dem ersten Vertreter dieser zynischen Zunft begegnete ich im Alter von achtzehn Jahren. Er schaute sich meine Röntgenbilder an und sagte tatsächlich den legendären Satz: „Ich habe eine gute und eine schlechte Nachricht für Sie. Welche zuerst?“ – „Die gute?“, fragantwortete ich unsicher. „Also, für die Musterung nächste Woche bekommen Sie von mir ein wasserdichtes Attest!“ – „Und die schlechte?“ – „Spätestens mit dreißig können Sie sich bei mir ’n Rollstuhl abholen!“ Der nächste Knochenbrecher nahm diese Drohung dann zwar freundlicherweise zurück, teilte mir aber mit, dass ich weder einer körperlichen Arbeit noch einer sitzenden Tätigkeit nachgehen sollte. Lange stehen wäre übrigens auch ganz schlecht. Empfehlen könne er mir da leider nichts. Schönen Tag noch.
Einmal geriet ich an einen achtzigjährigen, hochgewachsenen, silberhaarigen Ostpreußen, der Laurence Olivier als Vorbild für seinen Dr. Szell im „Marathon Man“ gedient haben musste. Wortlos und kalten Blickes begutachtete er mich wie eine Schweinehälfte bei der Trichinenbeschau. Schließlich gab er mir ein paar Tabletten und sagte: „Da müssen wir eigentlich nur noch auf den Bandscheibenvorfall warten. Sport bringt da nichts mehr. Passen Sie nur auf, dass Sie nicht auch noch dick werden!“ Und dann verließ er den Raum.
Inzwischen verlege ich meine akuten Schmerzanfälle auf die Wochenenden, suche dann den ärztlichen Notdienst auf, wo ich meist auf völlig fachfremdes und überarbeitetes Personal treffe, wie neulich auf den kleinen, des Deutschen anscheinend völlig unkundigen Chinesen. Wahrscheinlich ein Gynäkologe oder Enddarmspezialist. Es war wunderbar: keine Röntgenbilder, keine Worte, keine Drohungen. Ich zeigte auf meinen Rücken, der kleine Chinese nickte, zog eine Spritze auf, ich machte den Po frei, und alles war gut. Und voller Hoffnung auf den nächsten Tag – liebe Orthopäden, hört gut zu! – ging ich nach Hause.
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