hörbuch: Anthony Powellund seine vielschichtige Prosa
Es sind die Details, mit denen Anthony Powell gleich zu Beginn von „Eine Frage der Erziehung“, dem ersten Band seines 12-teiligen Romanzyklus „Ein Tanz zur Musik der Zeit“, in den Bann zieht. „Mit großen pantomimischen Gebärden, wie Komiker, die durch Gesten die Vorstellung extremer Kälte vermitteln wollen, rieben sie [die Arbeiter an der Ecke der Straße] sich die Hände und schlugen die Arme um ihre Körper.“ Diese Beobachtung macht der Internatsschüler und Ich-Erzähler Nick Jenkins auf einem Spaziergang im England der 1920er Jahre.
Jenkins, ein Spross der britischen Oberschicht – und aufgrund einiger weiterer autobiografischer Übereinkünfte wie etwa der spätere Beruf des Lektors und Kritikers so etwas wie das Alter Ego des Schriftstellers und Literaturkritikers Anthony Powell (1905 bis 2000) –, erzählt in „Eine Frage der Erziehung“ vordergründig von seinem Schul- und Collegealltag, ersten amourösen Gefühlen und familiären Befindlichkeiten. Mit schwingt immer die Erzählung von einem größeren Ganzen, vor allem was den sozialen Wandel anbelangt. Sei es in der Beschreibung seines Verhältnisses zu seinem Widersacher, dem Fabrikantensohn Widmerpool oder in der Darstellung seines unkonventionellen Onkels Giles, der in Bezug auf seine Klasse reformatorische Ansichten hat.
Denn anders, als es gemeinhin heißt, ist „Ein Tanz zur Musik der Zeit“ keine schnöde Beschreibung des Niedergangs der britischen Oberschicht. Powell lässt auch die gebildete Mittel- und die Unterschicht hinlänglich zu Wort kommen. Was sich auch in seinem fesselnden Schreibstil niederschlägt. Von einer fast schon gekünstelten latinisierten Hochsprache taucht er unversehens ins Lapidare und Umgangssprachliche ein, wie Heinz Feldmann anmerkt, der die Romane weitsichtig und genau im Ton übersetzt hat.
Rechtzeitig zum Dinner
Powell stattete seinen Erzähler mit Humor, wachsamen Augen und einem offenen Herzen aus. Seinen Beobachtungen wohnt Tragik inne, zugleich sind sie mit (Selbst)Ironie verfeinert, was insbesondere im zweiten Band, „Tendenz steigend“ große Freude bereitet, in dem Jenkins’ gesellschaftliche Umtriebe und die Sorge der Figuren, ob sie es rechtzeitig zum Dinner schaffen und hinterher alle Ball-Einladungen wahrnehmen können, vermeintlich im Vordergrund stehen.
Anthony Powell: „Ein Tanz zur Musik der Zeit“. Band 2: „Tendenz steigend“ (2 MP3-CDs, 627 Min., 2018), aus dem Englischen von Hans Feldmann, ungekürzte Lesung mit Frank Arnold, speak low, Berlin. Band 3 erscheint im März.
Wie einer schaut, was eine sagt, wird nicht einfach nur detailreich erörtert, Jenkins ergeht sich stets in Erklärungen, wie er oder sie es gemeint haben könnte. Messerscharfe Dialoge werden erfahren durch Jenkins lapidar daherkommenden, aber schonungslosen Überlegungen eine enorm unterhaltsame Zuspitzung. Dazu stellt er elaborierte und ideenreiche Vergleiche an, die seinen hohen Bildungsstand illustrieren – Powell spart nicht mit intertextuellen Verweisen und Anspielungen auf Weltpolitik und die schönen Künste (schon der Titel des Zyklus zitiert ein Gemälde des französischen Barockmalers Nicolas Poussin) –, und wenn ihm ein Vergleich nicht genügend erscheint, lässt er einfach einen zweiten folgen.
Diese Vielschichtigkeit herauszuarbeiten, ist ein anspruchsvolles Unterfangen, das Frank Arnold in seiner Lesung mit Leichtigkeit meistert. In den erzählenden Passagen verschmilzt er mit Jenkins, macht sich dessen Gedankenfluss zu eigen, spiegelt Gefühlstumulte und ist zugleich abgeklärt. In den Dialogen moduliert er seine klare Stimme moderat, sodass der Lesungscharakter beibehalten und kein Hörspiel daraus wird. Ruhig kennzeichnet er Ironie, lässt sich aber nie dazu verleiten, die Figuren vorzuführen. Ein Glücksfall. Sylvia Prahl
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