heute in hamburg: „Wir gehen nicht mehr von einem ‚Volk‘ aus“
Interview Alexander Diehl
taz: Frau Koch, was treibt 2019 eine Volkskundlerin um?
Gertraud Koch: Es sind vielfältige gesellschaftliche Dynamiken unterwegs: Die Folgen der Klimaveränderung, soziale Ungleichheit, Populismus, neue Nationalismen – all das beschäftigt Menschen sehr. Wir möchten verstehen, wie sie involviert sind, wie sie dazu beitragen, aber auch, welche Gestaltungsoptionen sie sich erschließen und Veränderung anstoßen.
Solche Themen beschäftigen auch andere Fächer.
Gesellschaftliche Probleme sind ja auch nicht disziplinär sortiert, sondern müssen aus unterschiedlichen Perspektiven analysiert und verstanden werden. Die Nachfolgefächer der Volkskunde sind sehr stark Alltagswissenschaft, schauen also darauf, was im Alltag passiert. Und hinterfragen dabei die großen Welt erklärenden Theorien.
Empirische Kulturwissenschaft, Kulturanthropologie, Europäische Ethnologie: Es gibt heute einen ganzen Katalog von Eigenbezeichnungen für das, was mal „Volkskunde“ hieß. Was war daran problematisch?
42. Kongress der Deutschen Gesellschaft für Volks-kunde: bis Donnerstag, Uni Hamburg. http://dgv-kongress2019.de
Es hat im Fach ein enormer Wandel stattgefunden seit den 1960er-, 1970er-Jahren. Heute forschen wir über Lebensstile und -weisen, gehen nicht mehr von einem „Volk“ aus, sondern fragen nach den Prozessen und Praktiken, in denen sich Gruppen und soziale Ordnungen herausbilden. Das geschieht heute – und wahrscheinlich auch früher schon – entlang von ganz anderen Kategorien als der nationalen Zugehörigkeit. So eine veränderte Ausrichtung soll dann auch im Namen deutlich werden: empirisch, ethnografisch, prozess- und praxisorientiert verstehen zu wollen, wie Menschen ihr Zusammenleben gestalten, Kulturelles und Soziales produzieren. Und dabei auch über Europas Grenzen hinausgehen.
Sie selbst haben früh über die Digitalisierung gearbeitet. Stiftet die einen Anlass, sich mit bedrohten Dingen zu beschäftigen, so wie lange die Industrialisierung einer war?
Wir sprechen manchmal von „Feuerwehr-Volkskunde“: Schnell noch einsammeln, was verloren geht, und es wenigstens dokumentieren. In Bereichen wie dem immateriellen Kulturerbe etwa, in dem es um die Wertschätzung und Erhaltung von kulturellen Traditionen geht, sind wir, bin ich selbst wissenschaftlich auch sehr aktiv. Die Erkenntnis daraus ist, nicht nur zurückzublicken, sondern auch nach vorne: Es geht insofern um einen Brückenschlag zwischen dem zu Bewahrenden und dem, was die Technik- und die damit einhergehenden Gesellschaftsentwicklungen an Potenzial bedeuten, auch wie diese sozial- und kulturverträglich gestaltet werden können.
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