heute in hamburg: „Unscharfe Linie zwischen Opfer und Täter“
Johanna Louise Witt, 26, hat Communication and Cultural Management in Friedrichshafen studiert. 2014 bis 2017 feste Regieassistentin am Thalia.
Interview Alexander Diehl
taz: Frau Witt, eine Theaterbearbeitung eines Buchs über „das Leben auf den Trümmern des Sozialismus“. Treten Sie mit ein auf einen, der längst am Boden liegt?
Johanna Louise Witt: Ich bin 26, also genau so alt, wie es die Sowjetunion nicht mehr gibt. Auch die Schauspielerin, Alicia Aumüller, ist nicht sehr viel älter – wir haben also in einer Welt gelebt, in der es den Sozialismus oder diese Idee nicht mehr gibt, die ja ohne einen Krieg oder so etwas verschwunden ist. Und genau damit wollten wir uns beschäftigen: was da nicht mehr ist. Davor war es eine aufgeteilte Welt, schwarz-weiß, eigentlich der Gegenentwurf zu dem, was wir jetzt haben.
Premiere hatte Ihr Stück Ende September, also beinahe im Oktober 2017 – waren genau 100 Jahre Abstand zur russischen Revolution Zufall?
Es ist von mir nicht intendiert gewesen. Aber aus Sicht des Theaters war es auch kein unwillkommener Zufall, aus dramaturgischer Sicht.
Die Autorin des Texts hat gesagt, sie wolle „alle Teilnehmer des sozialistischen Dramas“ zu Wort kommen lassen, den Henker wie das Opfer. Wie übersetzen Sie das auf die Bühne?
Man fängt mit einer Perspektive an und kommt am Ende mit einer ganz anderen heraus. Wenn man nun versucht, jede dieser Perspektiven ernst zu nehmen, führt das dazu, dass man von der des Henkers plötzlich in die eines Opfer rutscht, und wieder zurück. Es ist ja ein sehr dickes Buch, fast 600 Seiten; wir haben uns einige Geschichten rausgenommen, die exemplarisch für andere und überhaupt bestimmte Positionen stehen. Und anhand derer haben wir uns selbst durch das Buch gearbeitet.
Aber Henker und Opfer: Die muss man unterschiedlich behandeln, oder nicht?
Wir haben uns viel mit Hannah Arendt beschäftigt, damit, wie totalitäre Systeme entstehen, wie sie funktionieren. Und wenn man das bis hin zur letzten Konsequenz zu denken versucht, kommt man immer zu dem Problem, dass es gar nicht so leicht ist, diese Grenze zu ziehen. Das soll auf keinen Fall irgendwas relativieren, tut es aber auch nicht, glaube ich. Für eine heutige Betrachtung, um nicht einfach ins nächste Feindbild zu verfallen, ist es wichtig, es differenziert zu betrachten; und dann verschwimmt die Linie zwischen Opfer und Täter.
Handelt der Abend also gar nicht nur von etwas Totem und seinen Ruinen?
Auf keinen Fall! Das ist ja auch die Möglichkeit für uns, die wir alle nicht den Sozialismus, die Sowjetunion oder überhaupt ein solches System erlebt haben, darüber zu erzählen – und darüber, was möglicherweise unsere eigene Rolle in solchen Mechanismen ist.
„Secondhand-Zeit“ (nach Swetlana Alexijewitsch): 20 Uhr, Thalia Gaußstraße/Garage; weitere Vorstellungen: 14. 1., 7. 2. + 9.3.
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