heute in hamburg: „Die Revolution mythologisiert“
Nikolas Dörr, 38, ist Politologe und Historiker an der Universität Bremen. Er ist im Forschungszentrum Ungleichheit und Sozialpolitik tätig.
taz: Herr Dörr, hat der „Rote Oktober“ 1917 die Welt verändert?
Nikolas Dörr: Ja, ich glaube schon. Zum ersten Mal in der Geschichte sind Kommunisten an die Macht gekommen. Vorher gab es nur eine Theorie von Karl Marx bis zum Moment, wo Lenin und die Bolschewiki diese durchgesetzt haben. Der Kommunismus hat sich weltweit ausgebreitet, vor allem nach dem Zweiten Weltkrieg. Der Kalte Krieg wäre nicht denkbar gewesen, wenn es keine kommunistischen Staaten und die Sowjetunion gegeben hätte.
Warum fand die Revolution nicht in Deutschland statt?
1923 gab es mit dem „Deutschen Oktober“ einen solchen Versuch. Die Weimarer Republik erlebte den Höhepunkt einer krisenhaften Entwicklung mit Masseninflation, Besetzung des Ruhrgebiets und Streiks. Der Versuch eines kommunistischen Aufstands in Sachsen und Thüringen wurde frühzeitig von der Reichsregierung vereitelt. In Hamburg kam es unter der Leitung von Ernst Thälmann zu einem Aufstand, der jedoch schnell niedergeschlagen wurde. Später wurde dieser gescheiterte Revolutionsversuch von den Kommunisten mythologisiert und glorifiziert.
Was ist vom „Roten Oktober“ geblieben?
Es fällt auf, dass immer noch knapp ein Viertel der Weltbevölkerung in einem kommunistischen Staat lebt. Das liegt natürlich an China mit seinen 1,4 Milliarden Einwohnern. Dann gibt es noch Vietnam, Laos, Kuba und Nordkorea. Indirekt wirkt der Kommunismus auch in den ehemals sozialistischen Staaten nach.
Und in Europa?
Auf der ersten Blick scheint wenig übrig geblieben zu sein. Es gibt nur noch wenige kommunistische Parteien. In Europa geht es eher um Erinnerungs- und Geschichtspolitik und die Frage: Wie geht man mit den kommunistischen Verbrechen um? Die westlichen Staaten fokussieren sich oft auf die Geschichte der Nazi-Herrschaft, während die osteuropäischen Staaten 40 Jahre lang unter einer kommunistischen Diktatur gelebt haben.
Stimmt das Bild der Oktoberrevolution, das wir im Kopf haben?
Nein. Entweder wissen die Leute gar nicht mehr, was damals passiert ist, oder sie haben eine falsche Vorstellung. Die Revolution wurde stark mythologisiert. Sie war nicht so spektakulär, sondern nur ein Putsch, der vorbereitet war. In den verbreiteten Bildern – wie im Film „Oktober“ des sowjetischen Regisseurs Eisenstein – wurde sie als sehr mutige, heldenhafte Revolution dargestellt. Diese Bilder sind immer noch in den Köpfen, sind aber falsch.
Interview Adèle Cailleteau
Vortrag „100. Jahrestag des Roten Oktobers – Zur Historisierung der Russischen Revolution von 1917“: 19.30 Uhr, Geschichtswerkstatt Eimsbüttel, Sillemstraße 79; Eintritt: 3 Euro
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