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heute in hamburg„Eine reale Gefahr“

ANGST Das Internet gefährdet die freie Gesellschaft, sagt der Psychiater und Autor Jan Kalbitzer

Foto: Praxis Kalbitzer
Jan Kalbitzer

38, ist Psychiater und forscht in Berlin zu den Auswirkungen des Internets auf die seelische Gesundheit.

taz: Herr Kalbitzer, was hat das Internet mit seelischer Gesundheit zu tun?

Jan Kalbitzer: Wir befragen für die Forschung an der Charité Leute, die unter psychischen Beschwerden leiden. Viele sagen, dass das Internet anstrengend für sie ist, wenn sie ohnehin in der Krise sind. Dass sie dann das Gefühl haben, es überwältigt sie, oder der Vergleich mit anderen belastet sie. Solange es ihnen gut geht, ist es meistens in Ordnung.

Funktioniert das Internet als Gefühlsverstärker?

Menschen mit ähnlichen Gefühlen finden im Internet schneller zueinander, das ist erst mal nicht schlecht. Mein Eindruck ist aber, dass wir gleichzeitig verlernen, Gefühle in uns auszuhalten. Wenn ich etwas lese, was mich ärgert, geht die Wut sofort raus, wird sofort mitgeteilt. Dadurch entsteht eine hohe Emotionalität, die immer weiter geht, weil wenig innegehalten wird.

Was ist daran problematisch?

Ich glaube nicht, dass das emotionale Heißlaufen hilfreich ist, wenn es darum geht, wie wir gut auf Ereignisse reagieren können. Außerdem macht es einen abhängig und nimmt einem die Möglichkeit, differenziert zu reagieren. Wir müssen wieder lernen, einen inneren Raum zu haben, wo wir verschiedene Gefühle parallel eine Weile aushalten können, um dann abzuwägen, was für uns das beste ist.

Was meint der Titel Ihres Buches „Digitale Paranoia“?

Der Titel bezog sich ursprünglich auf die Angst, die Menschen vor der Technik haben, weil sie das Gefühl hatten, das macht etwas mit ihnen, was sie nicht einschätzen können.

Ein Beispiel?

Seit der Wahl in den USA und anderen politischen Entwicklungen ist jetzt eine ganz andere Angst entstanden. Eine grundlegende Angst, dass durch das Internet eine Gefährdung der Demokratie und der freien Gesellschaft entsteht. Als ich das Buch geschrieben habe, war es eher eine diffuse Angst, die nicht ganz realistisch war. Jetzt ist es eine deutlich realere Gefahr.

Inwiefern kann das Internet die Demokratie gefährden?

Wenn ein Teil der Gesellschaft ganz grundsätzlich nicht mehr glaubt, was Journalisten, Wissenschaftler oder Politiker sagen, und daraus parallele Realitäten entstehen, zwischen denen kein Diskurs mehr möglich ist, dann ist das eine Bedrohung für unsere Gesellschaft.

Interview: KSch

Diskussion und Lesung aus dem Buch „Digitale Paranoia. Online bleiben ohne den Verstand zu verlieren“: 18.30 Uhr, Zentralbibliothek, Hühnerposten 1

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