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heute in bremen„Die Taliban sind eher Patrioten“

Foto: privat

Hans-Joachim Giessmann

66, ist Direktor emeritus der Berghof-Foundation mit Beratungsfunktion für die Friedensprozesse in Afghanistan und Äthiopien.

Interview Teresa Wolny

taz: Herr Giessmann, mussten Sie Ihren Vortrag über den Friedensprozess in Afghanistan anpassen, nachdem die Taliban Mitte August die Macht übernommen haben?

Hans-Joachim Giessmann: Auch wenn sich die Machtverhältnisse verändert haben, ist das Wesentliche in diesem Prozess gleich geblieben. Unverändert stellt sich die Frage, ob es möglich sein wird, in Afghanistan einen inklusiven Friedensprozess zu entwickeln. Dabei stehen die Taliban vor den gleichen Herausforderungen wie die Vorgängerregierung, die dazu nicht in der Lage war.

Was ist ein inklusiver Friedensprozess?

Ein Staatsbildungsprozess, in dem sich alle Af­gha­n:in­nen wiederfinden können und der die Gesellschaft nicht weiter spaltet. Das ist in den letzten Jahren nicht gelungen. Auch der Westen hat vor allem auf die jungen, urbanen Eliten gesetzt. Viele Teile der afghanischen Gesellschaft sind aber nicht westorientiert, sondern leben nach traditionellen Wertvorstellungen. Inklusion erfordert, möglichst viele für gemeinsame Werte zu gewinnen.

Sie sprechen in diesem Zusammenhang von Dialog und Mediation. Was unterscheidet diese Ansätze von Diplomatie?

Die internationale Gemeinschaft richtete ihr Augenmerk bisher stark auf Verhandlungen. Dabei geht es um Geben und Nehmen zwischen Eliten. Dialog setzt den Akzent auf gemeinsames Lernen, unter Einbindung von Interessen der Zivilgesellschaft, auch gezielt von Minderheiten und Frauen. Vertrauen durch Verhandlungen entsteht erst, wenn deren Ergebnisse umgesetzt werden. In Dialogen wächst Vertrauen durch gemeinsames Lernen. Mediation, also die Hilfe durch Drittparteien, ist nützlich, wenn Blockaden zu überwinden sind, wenn die Parteien nicht weiter wissen. Afghanistan ist ein Beispiel dafür, dass ein Friedensprozess scheitern kann, wenn die drei Ansätze nicht verknüpft sind.

Sind Friedensprozesse erfolgreicher, je mehr Aufmerksamkeit sie bekommen?

Im Zentrum steht hierzulande ja vor allem die Kritik an der gescheiterten internationalen Mission. Die Konfliktgeschichte in Afghanistan reicht aber viel weiter zurück. Es wäre bedauerlich, wenn die weitere Unterstützung allein auf die Diskussion um den Misserfolg der westlichen Intervention reduziert wird.

Kann ein Friedensprozess mit den Taliban überhaupt funktionieren?

Es ist zu früh, dies zu beurteilen. Auch wenn ich damit vermutlich viel Kritik auf mich ziehe, halte ich es aus drei Gründen aber zumindest nicht für ausgeschlossen. Zum einen sind die Taliban keine globalen Gotteskrieger wie etwa der IS, sondern eher Patrioten und insoweit darauf fokussiert, Afghanistan nach ihren Überzeugungen zu gestalten. Zweitens ist ihre Identität für die Gesellschaft mehr die Religion als ethnische Zugehörigkeit. Wie sie mit anderen Religionen umgehen, wird zeigen, ob sie bereit sind, Gräben zuzuschütten oder auf alleinigem Führungsanspruch zu beharren. Und drittens bestehen auch die Taliban aus Gruppen mit sehr unterschiedlichen Zielvorstellungen. Ob der innere Zusammenhalt bleiben wird, ist offen.

Vortrag „Kriege beenden – aber wie? Verhandlungen, Dialog, Mediation und der afghanische Friedensprozess“: 18 Uhr, Haus der Wissenschaft, Sandstraße 4

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