heute in bremen: „35.597 verstorbene Geflüchtete“
Anja Tuckermann, 57, lebt als freie Schriftstellerin und Journalistin in Berlin.
Interview Cornelius Runtsch
taz: Frau Tuckermann, ein zentraler Teil Ihres Buches „Todesursache: Flucht“ ist eine lange Liste. Wer steht auf dieser Liste?
Anja Tuckermann: Auf dieser Liste stehen die auf der Flucht nach Europa oder in Europa verstorbenen Geflüchteten, das sind insgesamt 35.597. Die Seenotrettungsorganisationen schätzen allerdings, dass die Dunkelziffer ungefähr vier Mal so hoch ist. Diese Liste führt seit 26 Jahren das holländische Netzwerk „United for Intercultural Action“. Im Buch ist die Liste in ihrem Stand bis zum Ende November 2018 abgedruckt. Allerdings wird sie stetig weiter geführt, sodass mittlerweile sicherlich noch einmal tausend Fälle dazu bekommen sind. Wir arbeiten schon an der zweiten Auflage des Buches.
Wie ist diese Liste genau zustande gekommen?
„United“ analysiert Berichte aller europäischer Zeitungen und versucht dadurch, die Zahl der Toten nachzuvollziehen. Außerdem haben sie eine Kooperation mit der Internationalen Organisation für Migration, sowie mit dem Flüchtlingshilfswerk UNHCR.
Was war Ihr Beitrag zu dem Sammelband?
Todesursache: Flucht Buch-vorstellung und Vortrag,
18 Uhr, Willehadsaal (Altes Postamt), Domsheide 15
Kristina Milz und ich sind die Herausgeberinnen. Da die meisten Toten ohne Namen verzeichnet sind, haben wir im Gespräch mit Überlebenden der Flucht etwa 80 Namen erfahren und aufnehmen können und über einige der Gestorbenen Porträts geschrieben. Ihre Freunde und Wegbegleiter haben uns berichtet, was für Menschen sie waren, und wie sie gestorben sind. Für das Buch haben wir Journalisten, Wissenschaftler, Künstler, Aktivisten und auch Geistliche gewinnen können, die sich mit Flucht und Fluchtursachen beschäftigt haben. Das komplette Buch gibt es auch als Hörbuch, gesprochen von über 50 Personen.
Was bewegte Sie dazu, diesen Sammelband zu veröffentlichen?
Wir haben Ende 2017 mit der Recherche begonnen. Wir wollen zeigen, dass hinter jeder Zahl ein Mensch mit seinen Angehörigen und seiner Geschichte steht. Uns entsetzt, dass europäische Regierungen die Seenotretter kriminalisieren und sich kaum dafür einsetzen, dass in Libyen keine Menschen mehr gefoltert, sexuell misshandelt und versklavt werden. Dieses Massensterben ist ein Skandal und erschüttert Europas Glaubwürdigkeit im Innern wie nach außen. Unser Nachwort trägt denn auch den Titel „Europa, deine Toten“.
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