heute in bremen: „Wir müssen größer denken“
Interview Jan Zier
taz: Frau Müller-Hellmann, haben Sie jetzt alle Ihre Lieblingsklamotten aussortiert und tragen nur fair gehandelte Bio-Kleidung?
Imke Müller-Hellmann: Nein, ich trage die Sachen immer noch. Ich gehe nicht gerne shoppen, aber die paar T-Shirts, die ich zuletzt gekauft habe, stammen aus dem fairtragen-Shop.
Müssen wir all die Marken, die unter schlimmen Arbeitsbedingungen produzieren lassen, jetzt boykottieren?
Es ist wichtig, die Markennamen zu kennen, die gute Arbeitsbedingungen bei ihren Zulieferern einfordern. Gleichzeitig können wir den Wahnsinn nicht stoppen, indem wir nur noch „grün“ einkaufen. Wir müssen größer denken.
Da kommt man schnell zu den ganz grundsätzlichen Fragen des Kapitalismus.
Natürlich. Die Abgründe, die es in der Textilbranche gibt, sind erlaubt. Die Firmen bewegen sich innerhalb dessen, was diese Gesellschaft an Spielregeln für sie festsetzt. Man muss im Bestehenden die unterstützen, die es schon gut machen und trotzdem das System kritisch hinterfragen und verändern.
Über die Arbeitsbedingungen in Bangladesch wussten Sie bestimmt vorher schon Bescheid. Warum haben Sie sich trotzdem auf den Weg gemacht?
Lesung und Präsentation öko-fairer Mode: 19 Uhr, Kito, Alte Hafenstraße 30, Bremen-Vegesack
Mir geht es um die Menschen, die die Kleidungsstücke hergestellt haben, die ich jahrelang auf meiner Haut trage. Ich wollte die Leute zeigen, die in meinem Leben schon gegenwärtig sind. Die Frage ist dabei auch: Wie viel Welt lasse ich durch mich hindurch? Mir ist klar, dass ich nicht die schlimmsten Fabriken gezeigt bekomme, wenn ich vorne am Haupttor anklopfe. Das ist die Ambivalenz des Projekts. Ich habe – zum Glück – auch Fabriken gesehen, die gut waren. Ich wollte nicht nur meine Vorannahmen bestätigt sehen. Ich wollte alles erzählen, was mir widerfährt.
Sind Ihnen auch Menschen in den Fabriken begegnet, die gern dort arbeiteten?
Es kommen auch glückliche Näherinnen in meinem Buch vor, die froh sind, dass sie den Job haben und nun Mitsprachrechte in ihrer Familie haben, weil sie viel mehr Geld verdienen als ihre Eltern. Und die in der Stadt jenseits der familiären Aufsicht leben können. Es ist nicht alles schwarz oder weiß. Der Einzelne kann auch von dem Wahnsinn des Systems profitieren, das weiß jeder, der in den Zwängen des Kapitalismus steckt. Das wiederum rechtfertigt nicht, dass es schlimme Arbeitsbedingungen gibt.
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