heute in Bremen: „Es gab Befürchtungen“
Gedenken Erstmals nennt ein Erinnerungsbuch die Namen der Opfer der NS-Medizinverbrechen
taz: Frau Engelbracht, warum hat es so lange gedauert, bis es ein Erinnerungsbuch für die Euthanasie-Opfer gibt?
Gerda Engelbracht: Tatsächlich ist das Thema NS-Medizinverbrechen selbst schon sehr weitreichend erforscht, und gerade hier in Bremen hat die Erinnerung daran eine vergleichsweise große Öffentlichkeit, beispielsweise durch das Mahnmal, …
… den Irrstern auf dem Gelände des Klinikums Bremen-Ost …
… oder durchs Krankenhaus-Museum. Das Buch, das wir heute vorstellen, nennt erstmals die Namen aller 822 Bremer und Bremerinnen, von denen wir wissen, dass sie Opfer der Medizinverbrechen wurden. Auch ist es uns gelungen, einige kurze Lebensläufe zu rekonstruieren und von anderen haben wir sogar Bilder gefunden.
War die Namensnennung nicht umstritten?
Darüber, ob das sinnvoll ist, gab es lange Diskussionen.
In Schleswig-Holstein hatte sich das Landesarchiv mit Rückendeckung der Kultusministerin bis vor Kurzem geweigert, die Namen für ein Euthanasie-Mahnmal zu nennen!
Es gab überall immer wieder Befürchtungen, dass die Nennung eine Stigmatisierung der Nachfahren bewirken könnte, weil es sich ja um Erbkrankheiten gehandelt hätte. Mittlerweile ist aber weitgehend Konsens, dass die Würdigung der Opfer diese Wirkung nicht hat, sondern wünschenswert ist. Auch das Bundesarchiv plant, die Namen der Opfer der T4-Aktion in einer Datenbank online zugänglich zu machen.
Die Veröffentlichung als Buch ist aber die Ausnahme?
Soweit ich sehe, sind wir die ersten: Mir brannte das schon lange unter den Nägeln, weil ich mich schon seit vielen Jahren mit dem Thema auseinandersetze und dazu forsche. Es gibt zu vielen Opfergruppen Gedenkbücher, nur nicht für die Opfer der Medizinverbrechen. Es wird aber an einigen gearbeitet, zum Beispiel in München, wo die Veröffentlichung für Ende des Jahres geplant ist.
Wie kommt es, dass das Buch jetzt erscheint?
Der Anlass dafür ist, dass kommenden Mittwoch die Wanderausstellung „erfasst, verfolgt, vernichtet“ in der Unteren Rathaushalle eröffnet wird. Die Kulturambulanz hat sie nach Bremen geholt und ein sehr interessantes und informatives Begleitprogramm entwickelt.
Spielen die Täter im Erinnerungsbuch eine Rolle?
Nur am Rande. Das Buch fokussiert auf die Opfer, über die Täter habe ich in anderen Büchern ausführlicher geschrieben. Es ist aber richtig, dass man vom Verbrechen nicht berichten kann, ohne die Täter zu erwähnen: Die Bremer Psychiatrie-Chefs Walther Kaldewey und Theodor Steinmeyer waren keine Randfiguren des Tötungsapparats. Das waren wichtige Akteure.
interview: bes
Gerda Engelbracht: Erinnerungsbuch für die Opfer der NS-Medizinverbrechen in Bremen, 252 S., 19,90 Euro
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