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grünes grundsatzpapierGefühlte Gerechtigkeit

Politik und Wetterbericht haben bekanntlich eine Menge gemeinsam. Nicht nur hängen beide die Fähnchen in den Wind. Der Wetterbericht hat zudem den subjektiven Faktor entdeckt – die Frage, wie der Einzelne eine Temperatur empfindet. Gemessene vier Grad können zu gefühlten null Grad abkühlen, wenn ein Wind pfeift. Im Winter wiederum wirkt ein Temperaturanstieg auf zehn Grad plötzlich wie ein vorgezogener Frühlingsanfang. Der chill factor entscheidet über die Empfindungen – beim Wetter und in der Politik. Das gilt auch für die Grünen.

Kommentarvon BARBARA DRIBBUSCH

„Grüne planen grundlegenden Umbau des Steuersystems“ tickerten die Nachrichtenagenturen gestern und verwiesen auf den Entwurf eines neuen Grundsatzpapiers. Dort stand der semantisch bemerkenswerte Satz: „Starke Schultern müssen einen höheren Anteil zur Finanzierung staatlicher Aufgaben beitragen.“ Einen „höheren Anteil“, das klingt nach Umverteilung, gefühlter Gerechtigkeit gewissermaßen, negativem chill factor.

Man raunte sich gleich zu: Ist das der Schwenk nach links? Dazu steht aber nichts weiter drin in dem Papier. Heißt „höherer Anteil“ daher vielleicht nichts anderes, als lediglich den Status quo zu zementieren? In einem progressiven Steuersystem leisten naturgemäß jetzt schon die Besserverdienenden den höheren Beitrag. Dass vor der grünen Grundsatzdiskussion erst mal eine Textexegese stehen muss, ist neu.

Ganz früher hatte die Partei mal für die Wiedereinführung der Vermögenssteuer und die Erhöhung der niedrigen Erbschaftssteuer plädiert. „Die Einkommensteuer auf Erwerbs- und Kapitaleinkünfte und die Erbschaftssteuer sind Gerechtigkeitssteuern . . .“, heißt es jetzt vage. Durch solche Sätze wird keine alte Diskussion neu angeschoben. Vielmehr zeigt das Papier gerade in seiner Ungenauigkeit, wie man eine solche Diskussion heute am besten vermeidet – mit einem bisschen warmen Wind. Kurz: mit gefühlter linker Politik.

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