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groß neuendorfErfolgsdorf an der Oder

Das heimliche Zentrum von Groß Neuendorf ist das Landfrauencafé. Das wird Besuchern schnell klar. Vor der Tür sind die wirklichen Neuigkeiten angeschlagen, etwa dass der Taxiunternehmer Grundmann künftig zweimal die Woche eine Billigtour ins nahe Letschin anbietet. Im Haus befinden sich die Gaststätte und die Fremdenzimmer. Und drumherum alles, was Karin Rindfleisch und die Landfrauen in dem kleinen Dorf an der Oder aufgebaut haben.

Gewöhnlich wird allerorten in Brandenburg der Niedergang beklagt. Doch Groß Neuendorf ist eine Ausnahme. Kein Leerstand, mehr Nachfrage als Angebot, fast könnte man meinen, die 400-Seelen-Gemeinde mit ihren behutsam sanierten Fachwerkhäusern liege im Berliner Speckgürtel und nicht im östlichsten Zipfel Brandenburgs.

Doch gerade die Oder ist es, die dem Ort zum Aufschwung verholfen hat. Seit der Eröffnung des Oder-Neiße-Radwegs brummt der Tourismus. Und Groß Neudorf war von Anfang an eine „Koordinierungsstelle“ des Radwegs, hier findet man alles, was das Radlerherz begehrt: Unterkünfte, Gaststätten, Dorfkonsum und einen herrlichen Blick auf den Fluss. Vor allem aber wirbt Groß Neuendorf auch um polnische Gäste, die Hinweisschilder zum Hafen, zur Synagoge und zum jüdischen Friedhof sind alle zweisprachig.

Auf diesem Friedhof findet sich auch das Grab von Michael Sperling. Der Berliner Getreidegroßhändler hatte schon Mitte des 19. Jahrhundert dafür gesorgt, dass Groß Neuendorf zu den Gewinnerorten im Oderbruch gehörte. Dort gründete er eine Filiale seiner Firma, holte zahlreiche Glaubensbrüder als Arbeiter, ließ den jüdischen Friedhof anlegen und eine Synagoge bauen. Heute erinnern nicht nur Friedhof und Synagoge an Sperling und seine Nachfahren, sondern auch ein Michael-Sperling-Platz.

Das Wahrzeichen von Groß Neuendorf ist aber zweifelsohne der Hafen. Nachdem die Gemeinde 1911 an die Oderbruchbahn angeschlossen wurde, begann das kurze Zeitalter der Industrie. Groß Neuendorf wurde zum Hafen des Oderbruchs, und im Verladeturm wurde Getreide nach Stettin verschifft. Im andern Turm, dem Maschinenhaus, standen die landwirtschaftlichen Geräte, der Rest des Gebäudes diente als Speicher. Beide Gebäude wurden über eine Rohrleitung miteinander verbunden, so dass das Getreide vom Speicher direkt auf die Kähne verladen werden konnten.

Die beiden einzigen „Hochhäuser“ des Oderbruchs sind inzwischen saniert. Im Verladeturm betreiben die Landfrauen ein Café, ein Berliner Architekt bietet eine Ferienwohnung an. Aus dem Maschinenhaus ist ein Hotel geworden. Und aus der Rohrleitung wurde eine Brücke, die beide Türme miteinander verbindet.

Nur eines ist das Erfolgsdorf an der Oder nicht mehr – eine eigenständige Gemeinde. Doch auch da wusste sich Karin Rindfleisch zu helfen. Als letzte Bürgermeisterin von Groß Neuendorf ließ sie schnell noch Straßen und Wege pflastern. Denn das ist das Erfolgskonzept ganz im Osten Brandenburgs: Immer einen Tick schneller sein. UWE RADA

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