freundschaftskisten: Berlin zieht um
Bildet Ketten!
Ich Idi habe nicht schnell genug geschaltet. Auf die Frage, was ich am Samstag tagsüber vorhabe, habe ich wahrheitsgemäß geantwortet: „Nichts.“ In der Annahme, es winke eine Einladung zum Geburtstagsbrunch oder so. Wie naiv! Jetzt ist es zu spät: Die Umzugssaison ist eröffnet. Neben dem Bundeskanzler packt auch ein mir bekanntes Pärchen Kisten.
Umzugshilfe ist Ehrensache, der Freundschaftsbeweis der Erwachsenen. Und wer fällt schon gerne durch beim Psychotest: „Können Sie sich auf Ihre Freunde verlassen?“ Also antwortet man – von sich selbst ganz gerührt: „Natürlich helfe ich, gar kein Problem.“ Und tröstet sich mit dem Gedanken: Wer weiß, wann ich selbst das nächste Mal umziehe? Da kann es nicht schaden, sich im Gedächtnis der anderen schon mal auf der zwischenmenschlichen Gläubigerliste einzutragen. Ich selbst stehe schon auf Dutzenden dieser Listen. Nicht, dass ich so viele Freunde hätte, sie ziehen nur so häufig um. Denn: Berlin ist die Hauptstadt der Wohnungswechsel. Sie werden getauscht wie im Swinger-Club Partner: 427.597 Umzüge allein im Jahr 1999. Laut statistischem Bundesamt, die Dunkelziffer ist höher. Gäbe es eine Top Ten der Wochenendbeschäftigungen stünde Umziehen fast vorne – knapp hinter Auto waschen. Denn die Herren Wohnungswechsler können sich zwar ein 120-Quadratmeter-Dachgeschoss leisten, aber keine zu bezahlenden Möbelträger. „Ist auch nicht viel“, wird einem vorher versprochen. „Zumindest keine großen und sperrigen Sachen.“ Dann kommt das beruhigende Stichwort: „Wir sind auch genug, um Kette zu bilden.“
Los geht es grundsätzlich samstags um elf, ausgerechnet zu den schönsten Stunden der Woche. Zur besten Wochenmarkt-, Zeitung-Les-, Vormittags-Vögel-Zeit. „Große Sachen“ gibt es wirklich nicht viel; dafür zehn komplette Jahrgänge der Zeitschriften Spex und Konkret – sowie alle Platten und Bücher, die darin erwähnt sind. Dagegen wäre eine Schrankwand ein Kindergeburtstag. Und das mit dem Kette bilden funktioniert leider nur, wenn jeder zwei Stockwerke nimmt. Denn die anderen Freunde sind unzuverlässig.
So wandert der komplette Hausstand an einem vorbei: Topfpflanze, Schreibtischstuhl, beschriftete Kisten. „Bad“, „Büro“, „Briefe“ steht mit Edding groß oben drauf. Immerhin: nur eine Kiste „Erinnerungen“, das ist akzeptabel. Nebenbei wird „stille Post“ gespielt: „Ist es noch viel?“, wird von unten gefragt. „Geht so“, keucht es von oben zurück. Man nickt, als ginge es wirklich. Denn es ist alles wie immer: die Stockwerke zu hoch, die Kisten zu schwer, der neue Hausflur zu eng. Am Ende sind selbst Daunendecken zentnerschwer.
Aber irgendwann ist doch alles hoch getragen. Leider auch der Küchenschrank, der in den Keller sollte. Egal jetzt, der bleibt, wo er ist. Den nehmen wir dann halt in zwei Jahren mit. Wenn sich das Paar trennt oder Kinder kommen oder die Wohnung doch nicht so super ist wie beim Einzug gedacht. Und wir alles wieder hinunter tragen. Und noch ein paar Bücher und Schallplatten mehr. PHILIP MEINHOLD
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