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fernöstlicher diwanSpaziergang durch Ort, Zeit und Raum

Eine runde Erinnerung

Diese WM ist völlig anders, im Prinzip eigentlich sogar besser, würde ich mal so dahinstellen. Zum Beispiel: Korea – Polen, Japan – Belgien, Uruguay – Dänemark, Paraguay – Südafrika, Türkei – Brasilien. Als fanatischer Zuschauer ist man arg gefordert. Ganz relaxed die Spiele nach der Arbeit gucken, sich absentieren und angedüdelt dabei Kuchen essen und ab und an nur da und dort in Kneipen, Zelten und Gesellschaft – ist nicht mehr. Statt Rausch ist Askese gefordert. Früh aufstehen wie in der Schulzeit, Kaffee statt Bier und häufig Orte wechseln, denn man lebt ja in Berlin und will zumindest einen Teil der ca. 178 Orte besuchen, die ALLES zeigen.

Die Orte variieren in ihrer Attraktivität zwischen dem Morgen und frühen Nachmittag. Am frühen Morgen kann es großartig sein, in Kreuzberger Kneipen (alle Expunkkneipen zeigen Fußball) zu gucken, wenn da so eine Mischung aus Leuten, die durchgemacht haben, und anderen, die grad aufgestanden sind, herumsitzt. Expunker und Freunde der härteren Klänge verstehen sich meist ganz gut auf Fußball.

DETLEF KUHLBRODTS WM

Mein Spieler: Junichi Inamoto, weil: toller Wuselstürmer, klasse Mimik beim 2:1

Mein Team: Japan, weil die Mischung aus einer gewissen Schwäche (Kopfball) und großer Stärke (Schnelligkeit, Ballgewandtheit) sich so fantastisch die Waage halten

Mein Weltmeister: Italien, weil sie so fies und arrogant spielen

In Kifferkneipen gibt es auch oft ein bodenständig fachverständiges Publikum. Die Spreu trennt sich vom Weizen und wer die Möglichkeit hat zu gucken, ist privilegiert, obgleich andererseits ja auch viel zu hören ist vom volkswirtschaftlichen Schaden, verursacht durch gewissenlose Arbeiter und Angestellte, die bei der Arbeit gucken. Vermutlich aber wird es in vielen Betrieben so sein, dass nur die Chefs und Betriebsratsvorsitzenden Premiere-Fernsehen in ihren Chefzimmern haben.

Unter den Zuschauern überwiegen die Studenten, Freiberufler, Hausfrauen. Der Tag beginnt immer mit dem ersten Spiel unter schweigsamen Männern, die mit dem einen Teil ihres Bewusstseins noch im Bett sind. Das erste Spiel ist so ähnlich wie morgens ins Kino gehen oder Raven. Da gibt’s ja auch immer viele, die erst mal schlafen und dann losziehen. Das ist ja der interessante Punkt, wo sich ein exzessiver Tagesrhythmus in nichts mehr unterscheidet von dem des fleißigen Frühaufstehers. Wenn Deutschland am Mittag spielt, gilt es Orte zu meiden, an denen die Fans oder Feinde der Unsrigen dominieren.

Ist das Spiel nicht so ganz interessant, kommt oft auch ein bisschen Nostalgie vorbei. Das Ende der letzten WM hatte zum Beispiel am Love-Parade-Wochenende stattgefunden. Ich war im „Tresor“ gewesen und hatte das Endspiel mit lustig Verpeilten in einem türkischen Imbiss nahebei angeguckt und danach waren wir wieder in die Discothek gegangen. Das war super! An besonders viele Endspiele kann ich mich aber eigentlich gar nicht mehr erinnern; eher an andere, die aufzuzählen dann aber doch zu weit führen würde. Wenn man so zurückdenkt, sind die Spiele jedenfalls selber immer nur ein Teil des Erinnerungsbildes, denn zum Spiel gehört immer auch die Erinnerung an die Situation, in der man es gesehen hat, an Freunde, Orte, Urlaub, den langen Weg, den man ging vom Festivalgelände in Roskilde in die Stadt, wo’s Fernseher gab. Weil die Erinnerung an Fußball so verknüpft ist mit allem, wie man sonst so lebt, hat das eine große Bedeutung und einige Spiele funktionieren wie Erinnerungsspeicher.

Mein wichtigstes Spiel der WM 94 war das 2:3 zwischen Kolumbien und Rumänien in der Vorrunde. Wenn es nicht erst um zwei Uhr nachts angefangen hätte, wenn ich es nicht übermüdet in der Küche einer Privatpension in Halle gesehen hätte, würde ich mich vermutlich gar nicht so sehr dran erinnern. So aber wurde mein heldenhafter Kampf gegen’s Einschlafen mit dem heldenhaften Sieg der Rumänen belohnt. Danach war Rumänien sechs Jahre lang mein Lieblingsteam.

Diesmal bin ich noch auf der Suche. Belgien und Polen waren aussichtsreiche Kandidaten. Die Türkei hat immer noch ganz gute Karten, weil sie an die Rumänen spiel- und assoziationstechnisch (Hadj war lange Kapitän von Galatasaray Istanbul) erinnern, regionalen Bezug haben (Kreuzberg) und böse benachteiligt wurden. Seit gestern aber sind die Japaner, die in umgekehrter Schalke-Kleidung aufliefen, zunächst mal mein Lieblingsteam. Das Weitere wird sich dann schon ergeben.

DETLEF KUHLBRODT

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