fall ullrich: Wir sind keine Roboter
Der deutsche Tour-de-France-Heroe Jan Ullrich hat Fürchterliches getan: Er hat zwei kleine, weiße Pillen geschluckt! Jetzt hat er gestanden. Die Zeitungen bringen Dossiers, Radio und TV Sondersendungen. Und alle fragen sich: Ist das der Zusammenbruch? Die Lebenskrise? Wird Ullrich jemals wieder radeln? Oder im Drogensumpf versinken – mit der Nadel im Arm auf dem Bahnhofsklo von Merdingen?
Kommentarvon MANFRED KRIENER
Eine Nation ist schockiert. Sportreporter, von ihren eigenen Suffexzessen gezeichnet, haken nach. Wie konnte er so etwas nur tun? Ausgerechnet Jan, der nette Junge mit den lustigen Sommersprossen und den in jedem Frühjahr rosig blühenden Pausbäckchen, hat sich Rauschgift zugeführt. Zwei Tabletten, oral, nächtens. Ungeheuerlich! So viel Bigotterie gab es noch selten – und so viel hysterische Dummheit auch nicht. Was jeden Samstagabend eine Million Mal passiert, wird plötzlich zum Weltuntergang hochgejazzt. Ein junger, gestresster Mann, von Verletzungen gequält, von stumpfsinniger Reha frustriert, geht mit Freunden in die Disko. Man trinkt Alkohol, schluckt eine Partypille – das war’s. Wo ist das Problem?
Im Falle Ullrichs stürzt die Lust auf Rausch, die Sehnsucht nach Vergessen – eine seit Jahrtausenden beobachtete anthropologische Konstante – einen Helden vom Sockel. Denn auf eines ist Verlass: Sobald es um Drogen geht, dreht Deutschland durch. Menschen, die jeden Tag mit Nikotin, Tabletten und Sixpacks durch den Alltag rauschen, geben den moralischen Scharfrichter, können nicht begreifen, dass jemand so „eine Ochsendummheit“ begeht. Ein Spitzensportler darf nie über die Stränge schlagen. Er muss funktionieren wie ein Roboter, sein Gewicht halten, muss nüchtern, diszipliniert und eisern für die Nation seinen Körper stählen. Um jeden Preis. Das ist der ebenso unerbittliche wie unmenschliche Verhaltenskodex für strahlende Sieger. Für die Götter der Moderne.
Dabei ist es so einfach: Laborratten, im Tierversuch von kleinen Stromstößen gestresst, trinken doppelte bis dreifache Mengen des angebotenen Alkohols. Wasserbüffel im Vietnamkrieg fraßen während amerikanischer Bombenangriffe riesige Mengen Schlafmohn. Und dauerverletzte Radfahrer, die sich den Saisonhöhepunkt Tour de France im Fernseher der Rehaklinik ansehen müssen, gehen abends einen draufmachen. Das hat nichts mit Doping, nichts mit Weltuntergang und Lebenskrise zu tun. Das ist stinknormal.
brennpunkt SEITE 4
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